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Kurdisch-sein, mit deutschem Pass!


Auteur :
Éditeur : Navend Date & Lieu : 2000, Bonn
Préface : | Pages : 160
Traduction : ISBN : 3-933279-09-7
Langue : AllemandFormat : 150x210mm
Code FIKP : Liv. Ger. Sch. Kur. N° 10Thème : Général

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Table des Matières Introduction Identité PDF
Kurdisch-sein, mit deutschem Pass!


Kurdisch-sein, mit deutschem Pass!

Susanne Schmidt

Navend

Diese Studie basiert auf einer landesweiten Erhebung zur Gruppe der Jugendlichen kurdischer Herkunft in Nordrhein-Westfalen; nut ihr wird wissenschaftliches Neuland betreten: Kurden und Kurdinnen werden in der Regel unter die Angehörigen ihrer Herkunftsstaaten subsumiert. Daher existieren keine soziodemografischen Daten über diese Einwanderungsgruppe und auch in der Migrationsforschung blieben sie mit ihrer spezifischen Lebenssituati-on bisher unbeachtet.

Die Studie widmet sich der Lebenssituation Jugendlicher kurdischer Herkunft in Deutschland und basiert auf 350 Interviews, die mittels eines statistischen Verfahrens ausgewertet wurden. Durch die Analyse der Themenkomplexe „Sprachgebrauch und Mehrsprachigkeit“, „Bildungsaspiration und -Chancen“ und „Kulturelle Identität“ wird in die spezifische Situation Jugendlicher kurdischer Herkunft eingefuhrt. Leitende Fragestellungen sind:
-Wie sind die Bedingungen für formale und alltägliche Integration in die Aufnahmegesellschaft?
-Wie nehmen Jugendliche kurdischer Herkunft am gesellschaftlichen Leben des Aufnahmelandes teil? BhH

-Welche Faktoren bestimmen Nähe und Distanz zur Herkunftskultur?
-Welche Konsequenzen haben ausgrenzende Erfahrungen für kurdische
Jugendliche bei dem Aushandeln verschiedener, z.T. widersprüchlicher
Botschaften in ihrem Alltagsleben?
-Wie werden Chancen zur Partizipation an gesellschaftlichen Ressourcen vor dem Hintergrund fehlender Rückkehroptionen genutzt?
-Wie gestalten sich die Bezüge zu Freunden, Familie und Freizeit?



VORWORT DER BEAUFTRAGTEN DER BUNDESREGIERUNG FÜR AUSLÄNDERFRAGEN

Jugendliche kurdischer Herkunft in Deutschland

In meinem Büro hängt seit kurzem eine Karikatur von Til Mete. Ein kleiner Junge in einem Kinderzimmer, ein Chaos an Spielsachen überall verstreut und der strafende Blick der Mutter in der Tür: „Das waren die Kurden!“ ist die fadenscheinige Ausrede des Kleinen für die angerichtete Unordnung.

Nicht immer ist das Bild kurdischer Migranten in der deutschen Öffentlichkeit so humorvoll. Kurden - das sind in unserer öffentlichen Wahrnehmung manchmal die „Waisen des Universums“ - wie der Kurdenführer Barzani sie nannte, die Opfer von politischer Verfolgung in ihren Heimatländern, die als Flüchtlinge zu uns kommen. Es sind aber auch die Täter, Sympathisanten der PKK, die wiederholt in der Bundesrepublik mit Gewalttaten auf sich und ihre Forderungen aufmerksam gemacht haben. Die Diskussion um diese gewaltsamen Auseinandersetzungen prägte in den letzten Jahren nicht nur das Bild kurdischer Migranten in Deutschland, sie hat auch die Beschäftigung mit Fragen, die die konkreten und alltäglichen Lebensumstände von Migranten kurdischer Herkunft betreffen, in den Hintergrund treten lassen.

Seit den sechziger Jahren leben kurdische Migranten in Deutschland, sie kamen in Folge der Arbeitsanwerbung und als Familienangehörige, später als politische Flüchtlinge. Wahrgenommen wurden sie zumeist als Staatsangehörige ihrer Herkunftsländer, als Türken, Iraner, Iraker oder Syrer, obwohl ihr Anteil unter den Migranten aus diesen Ländern zumeist überdurchschnittlich ist. Erst in den letzten Jahren haben sie sich aus dem Schatten ihrer nationalstaatlich verfassten Herkunftsländer lösen und als ethnisch-kulturell eigenständige Minderheit artikulieren können. Doch während etwa in Frankreich schon seit Jahren ein kurdisches Institut existiert, gibt es in der Bundesrepublik mit seiner etwa einer halben Million kurdischer Migranten allenfalls Ansätze zu solchen Institutionen, die sich mit Fragen kurdischer Geschichte, Gegenwart und Identität auseinandersetzen. Auch in der Migration- und Integrationsforschung existieren weiterhin große weiße Flecken hinsichtlich dieser Migrantengruppe. Hier gibt es aus meiner Sicht noch großen Bedarf.

Die vorgestellte Studie ist ein Beispiel für diese Entwicklung hin zu einer Beschäftigung mit der Thematik der Integration einer ethnischkulturellen Minderheit aus einem nationalstaatlich verfassten Herkunftsland. Welche besonderen Gesichtspunkte müssen bei der Integration von Minderheiten aus nationalstaatlich verfassten Herkunftsländern berücksichtigt werden? In einer Welt, die als übergeordnetes politisches Kriterium die nationalstaatliche Zugehörigkeit hat, geraten Fragen, die zugewanderte Minderheiten dieser Nationalstaaten betreffen, leicht aus dem Blickfeld. Bemerkenswert ist hierbei, dass ethnische oder religiöse Minderheiten gerade unter Zuwanderern oft stärker repräsentiert sind als im Herkunftsland selbst. Politische Verfolgung von Minderheiten oder kulturelle Unterdrückung ebenso wie wirtschaftliche Unterentwicklung und kriegerische Auseinandersetzungen in den Siedlungsgebieten der Minderheiten veranlassen ihre Angehörigen vergleichsweise häufiger zur Arbeitsemigration oder zwingen sie zur Flucht.
Das übergeordnete Ordnungskriterium der nationalstaatlichen Zugehörigkeit hat in einer Einwanderungssituation positive wie negative Auswirkungen.

Die „Blindheit“ des Einwanderungslandes Deutschland gegenüber der ethnischen Vielfalt innerhalb der Migrantengruppe aus einem Nationalstaat ist für Minderheiten oft befreiend. Ihre ethnische Zugehörigkeit ist im Einwanderungsland nicht mehr Anlass für politische Verfolgung; sie genießen grundsätzlich die gleichen Rechte wie andere Zuwanderer, z.B. auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt, beim Versammlungsrecht oder bei der Selbstorganisation ihrer politischen und kulturellen Interessen. Ihre ökonomische, soziale und politische Chancengleichheit unterscheidet sich nicht grundlegend von der anderer Migranten.

Einschränkungen in diesen Bereichen entstehen dann, wenn wie beim türkisch-kurdischen Konflikt auch außenpolitische Interessen Auswirkungen haben auf innenpolitische Entscheidungen. Das Verbot der PKK und die inzwischen aufgehobene Weisung, an kurdische Organisationen in Deutschland grundsätzlich keine öffentlichen Mittel, zum Beispiel aus den Mitteln für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, zu vergeben, wurden unter diesem Gesichtspunkt kritisiert.

Gleichzeitig führt die ausschließliche Ausrichtung der Integrationspolitik an nationalstaatlicher Zugehörigkeit in anderen Bereichen zu Benachteiligungen. So ist kein muttersprachlicher Unterricht in Nicht-Nationalsprachen vorgesehen, in Deutschland beschränkt sich dieser weitgehend auf die Staatssprachen der Anwerbeländer. Gleiches galt für die Sozialberatung. Weiterhin fehlt der Minderheit die politische Schutzund Lobbyfunktion des Herkunftsstaates gegenüber der Regierung des Einwanderungslandes.

Die Bedeutung ethnischer Identität und die Rolle der Muttersprache, der Kontakt zu staatlichen Stellen und zum gesamten gesellschaftlichen Umfeld sind Fragen, die nicht ausschließlich die Minderheit betreffen. Sie können sinnvoll nur unter Einbeziehung beider Seiten des Integrationsprozesses von Mehrheit und Minderheit bzw. auch von Minderheiten untereinander behandelt werden.
Welche Anforderungen an alle beteiligten Seiten bestehen? Welche Grenzen müssen eingehalten werden?

Der Mehrheit der Bevölkerung wie auch den staatlichen Stellen wird erst langsam bewusst, wie groß die innere kulturelle, ethnische, sprachliche und religiöse Vielfalt der zugewanderten Bevölkerung ist. Die Politisierung dieser Zugehörigkeiten und Orientierungen in den Herkunftsstaaten, wie sie bei Kurden oder auch bei Muslimen stattfindet, erschwert einen sachlichen und situations-angemessenen Umgang mit diesen Gruppen in Deutschland. Die zunehmend grenzüberschreitende Verdichtung politischer, wirtschaftlicher, medialer Verbindungen und Abhängigkeiten, macht es gleichzeitig erforderlich, Ereignisse in den Herkunftsländern zu berücksichtigen.

Die Problematik liegt darin, einen Mittelweg zu finden, der sowohl den zugewanderten Gruppen hier und ihren herkunftsbezogenen Interessen gerecht wird als auch die gesellschaftliche Grundlage demokratischer und gewaltfreier Konfliktlösung sowie der grundsätzlich individuellen und nicht nach ethnischer Gruppenzugehörigkeit strukturierten Beziehung zwischen Bürger und Staat respektiert.

Die staatlichen Institutionen müssen also die politischen und kulturellen Rechte der Minderheiten aus Nationalstaaten sichern, ohne dass ethnisch-kulturelle Kriterien und Zugehörigkeiten zum zentralen Merkmal erhoben werden. Das betrifft zum Beispiel das Versammlungs- und Vereinsrecht, die Gleichberechtigung bei der Inanspruchnahme öffentlicher Mittel, die grundsätzliche Bereit-schaft, muttersprachlichen Unterricht einzuführen, und die Entfaltung kultureller Aktivitäten zu ermöglichen.

Eine Verständigung zwischen kurdischen und türkischen Zuwanderern wird darüber hinaus gefördert, wenn nach den zahlreich vorhandenen Gemeinsamkeiten in den Lebenserfahrungen als Migranten sowie in den politischen und gesellschaftlichen Zielen im Herkunftsland und in Deutschland gesucht wird. Wenn sich verschiedene Einwanderergruppen feindschaftlich gegenüberstehen, können sie weniger für ihre Situation im Herkunftsland und in Deutschland erreichen, als wenn sie dort solidarisch handeln, wo gemeinsame Interessen bestehen.
Die übergeordnete Frage ist auch, welche Rolle ethnische Zugehörigkeit im Einwanderungsland Deutschland spielen darf und soll. Das betrifft nicht nur Minderheiten innerhalb der zugewanderten Gruppe. Um diese Fragen zu klären, braucht es sachlicher und fundierter Grundlagen der Mechanismen von Identitätsbildung. Hierzu dient auch die vorliegende Untersuchung.

Marieluise Beck



Vorwort von Navend - Zentrum für Kurdische Studien e.V.

Kurdinnen und Kurden in Deutschland sind in den vergangenen Jahren vielfach in die Schlagzeilen geraten. Dabei wurde und wird deutlich, daß noch ein großes Informationsdefizit besteht hinsichtlich der Lebenssituation und spezifischen Probleme der kurdischen Migrantinnen in Deutschland. Gleichzeitig mangelt es auch an Untersuchungen und Forschungsaussagen über diese Migrantinnen gruppe.

40 Jahre nach der Anwerbung kurdischer Arbeitsmigrantinnen hat sich die Wahrnehmung dieser Gruppe in Deutschland wesentlich verändert. Früher wurden im Bewußtsein der Öffentlichkeit Kurdinnen allenfalls mit „Karl-May-Romantik“ assoziiert, meistens wurden die lebenden kurdischen Arbeitsmigrantinnen jedoch als "Türken" wahrgenommen.

Auch unter den kurdischen Arbeitsmigrantinnen selbst war bis in die 80 er Jahre vorherrschend, dass sie sich in der Außenwelt als "Türken" präsentierten, obwohl sie im häuslichen Privatbereich an der Pflege kurdischer Traditionen und Sprache festhielten. Dies spiegelte den Assimiliationsdruck wider, dem sie sowohl in der Türkei als auch in Deutschland ausgesetzt wurden.

In den vergangenen Jahren hat sich die kurdische Selbstdefinition entscheidend geändert. Dies hat einerseits mit den Entwicklungen im Heimatland zu tun, ist andererseits aber auch ein Reflex auf die Situation hier in Deutschland. Durch die Bürgerkriegssituation in der Türkei und im Irak wurde es zunehmend schwieriger für die hier lebende kurdische Bevölkerungsgruppe, "unpolitisch zu sein". Für viele Kurdinnen und Kurden ist eine Rückkehroption unter anderem deswegen entfallen, weil ihre Heimatorte dem Erdboden gleichgemacht worden sind.
Stellt es sich in der öffentlichen Wahrnehmung auch oft anders dar, z.B. in der Abschiebungsdiskussion, so handelt es bei den in Deutschland lebenden Kurdinnen nur zu einem geringen Teil um Flüchtlinge. Den Großteil der Kurdinnen (85- 90 Prozent) stellen vielmehr ehemalige Arbeitsmigrantinnen und deren Nachkommen. Ein wachsender Teil verfügt inzwischen über die deutsche Staatsangehörigkeit. Im Alltagsleben sind unter den Kurdinnen vielfältige kulturelle Verhaltensmuster und Einstellungen zu beobachten. Auch die selbständige Erwerbstätigkeit der kurdischen Bevölkerungsgruppe in Deutschland ist erheblich angewachsen; Kurdinnen stellen einen bedeutenden Anteil der Unternehmensgründer und schaffen Arbeitsplätze.

Die Existenz der großen in Deutschland lebenden kurdischen Bevölkerungsgruppe muß Eingang finden in die Diskussion um Migrations- und Integrationsfragen und interkulturellen Dialog. Eine Integrationspolitik kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie auch die Lebensbedingungen ihrer Zielgruppe erforscht und berücksichtigt. Sie muss die spezifischen Probleme und Herausforderungen kennen, denen sich diese gegenübersieht. Nur dann kann man Integrationshindernisse aufspüren und die Voraussetzungen schaffen, die Betroffenen und ihre Familien wirklich zu erreichen.

Das Forschungs- und Modellprojekt „Entwicklung und Erprobung eines adressatenspezifischen Integrationskonzeptes für kurdische Migrantinnen in NRW mit Schwerpunkt auf Jugendarbeit“ soll hierzu einen Beitrag leisten. Es gliedert sich in drei Teile:

Auf der Basis von ca. 350 Interviews soll ein Einblick in die spezifische Lebenssituation von Jugendlichen kurdischer Herkunft und deren Selbstwahrnehmung ermöglicht werden. Dabei sind u. a. folgende Fragen aufgeworfen: Welches Verhältnis haben die Jugendlichen zur deutschen Aufnahmegesellschaft und den politischen Institutionen? Was bedeutet ihre kurdische Herkunft für sie? Wie orientieren sie sich in kulturell unterschiedlich geprägten Lebensumfeldern? Wie setzt sich ihr Freundeskreis zusammen? Welchen Konflikten sind sie ausgesetzt, und wie gehen sie damit um?

Die Ergebnisse dieser Befragung werden in dieser Publikation dargestellt.
Ein weiterer Teil der Untersuchung widmet sich der Wahrnehmung dieser Jugendlichen durch Behörden und Institutionen, Trägerorganisationen der Jugend- und Migrantinnen Arbeit sowie kurdischen Selbstorganisationen. Hierzu wurde eine qualitative Befragungen bei diesen Einrichtungen durchgeführt.

Auf der Grundlage erster Ergebnisse dieser Studie wurde ein Modellprojekt zur Arbeit mit kurdischen Jugendlichen in Kooperation mit Mitarbeiterinnen von freien Trägern integrativer Maßnahmen entwickelt und erprobt.

Als wichtiges Ergebnis dieses Forschungsprojektes, mit dem Neuland betreten wurde, ist festzustellen, dass Integration und "kurdische Identität kein Gegensatz sind. Man wird sich von bestehenden Klischees verabschieden müssen - zugunsten eines differenzierten Bildes über die hier lebenden Kurdinnen.

Bei den befragten kurdischen Jugendlichen ist ein starker Integrationswille festzustellen, der sich u.a. in der Überwindung von Bildungsschranken und einer hohen Einbürgerungsbereitschaft zeigt. Die stärkere Hinwendung zur Aufnahmegesellschaft steht vermutlich in Zusammenhang mit dem Integrationsdruck infolge der mangelnden Rückkehrmöglichkeit der Familien in die Heimatorte.

Trotz schlechter Vorbedingungen (32 Prozent verstanden bei der Einschulung kein Deutsch; Bildungsferne der Eltern) gehören sie nicht zu den "Bildungsverlierern". Ihre Bildungskarrieren sind angenähert an die der deutschen Jugendlichen, wobei sie die vorhandenen Nachteile durch eine besonders starke Lernmotivation ausgleichen. Dies unterscheidet sie zugleich in bemerkenswerter Weise von anderen Nationalitätengruppen. Noch immer ist nämlich die Anzahl von Hauptschülerinnen ausländischer Herkunft fast dreimal so hoch wie die der deutschen. Dabei stellt sich die Schulbildung von Jugendlichen italienischer und türkischer Nationalität nach den Bildungsstatistiken am ungünstigsten dar (höchster Anteil beim Sonder- und Hauptschulbesuch, niedrigste Schüleranteile in Gymnasien und Realschulen, niedrigere Schulabschluss- und Ausbildungsquote).

Dennoch hat das Kurdische in der lebensweltlichen Orientierung der Jugendlichen eine starke Präsenz. Die "kurdische Frage" und die Verbundenheit mit dem kurdischen Volk nimmt bei ihnen einen hohen Stellenwert ein. Nur zum Teil hängt dieses Interesse mit einer eigenen persönlichen Betroffenheit auf Grund der Auswirkungen des Krieges zusammen; sie ist auch unabhängig davon vorzufinden. Dabei dürfte die Tatsache, dass die kurdischen Jugendlichen - als indirekte Folge des Krieges - in vielfacher Weise mit der Thematik in ihrem Umfeld konfrontiert werden, eine wichtige Rolle spielen.

Es besteht bei den Jugendlichen ein starkes Interesse an der kurdischen Sprache, Geschichte und Kultur, ein ausgeprägter Wunsch nach mehr Information sowie nach Möglichkeiten, ihre Bezüge zur kurdischen Herkunft in ihrer Identitätsarbeit zu klären. Diesem Bedürfnis wird bisher nur ungenügend Rechnung getragen. Unterstützung erhalten sie insoweit in der Regel nur durch kurdische Selbstorganisationen. So fehlt es z.B. an geeigneten Lehr- und Unterrichtsmaterialien bzw. entsprechendem Informationsmaterial bei den Einrichtungen der politischen Bildung.

Zusammenhänge zwischen einer starken Hinwendung zur Herkunftskultur und schulischen Misserfolgen, wie sie derzeit - anlässlich der Ergebnisse der 13. Shell-Jugendstudie - bezogen auf türkische Migrantenkinder diskutiert werden, sind jedenfalls bei den befragten kurdischen Jugendlichen nicht zu beobachten.

Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen, dass die kurdischen Jugendlichen in unterschiedlichen Lebensumfeldern integriert sind und sich besondere Kompetenzen angeeignet haben, um flexibel diese Herausforderung zu meistern und angesichts der verschiedenen Rollenerwartungen eine Identitätsbalance zu entwickeln.

Als Defizit ist zu erkennen, dass den kurdischen Jugendlichen bis jetzt leider kaum Unterstützung bei der Entwicklung eines positiven Selbstbildes und einer Auseinandersetzung mit ihren eigenen Wurzeln zuteil wird. Vielmehr herrscht bei Behörden und Institutionen noch eine große Unwissenheit bezüglich der Lebenssituation der kurdischen Migranten vor. Die Mehrheit der kurdischen Jugendlichen empfindet die Nichtanei-kennung der Kurdinnen, den Mangel an Wissen über Kurdinnen, bestehende Vorurteile, die mangelnde Förderung der kurdischen Sprache sowie die als einseitig empfundene Medienberichterstattung als ausgrenzend.

Statt - wie bisher - die kurdenspezifische Problematik zu tabuisieren, sollte hiermit konstruktiv umgegangen werden. Ausgangspunkt sollte vielmehr das Erkennen und Fördern der interkulturellen Kompetenzen sein. Hierzu gehört die Förderung von Offenheit und Auseinandersetzung mit den verschiedenen kulturellen Lebenswelten. Der Wunsch der Jugendlichen nach mehr Information und Möglichkeiten des kurdischen Spracherwerbs sollte entsprechend ernst genommen werden. Gerade die Möglichkeit zur Pflege und kritisch-konstruktiven Auseinandersetzung mit ihrer Herkunftskultur bietet den Jugendlichen eine
Chance, die Anforderungen verschiedener Wertesysteme zu bewältigen.

Der mehrkulturelle Kontext dieser Jugendlichen sollte dabei nicht verengt gesehen werden als eine Form kultureller Zerrissenheit, sondern vielmehr gleichermaßen als Chance zur Erweiterung ihrer Lebens- und Handlungsmöglichkeiten begriffen werden. Es ist ein veränderter Umgang mit der Thematik „Integration“ erforderlich. Integration ist weder ein bloßes Nebeneinander von Menschen noch das Verschwinden der kulturellen Herkunft der Migrantinnen. Der abverlangten Integrationsbereitschaft muss eine Akzeptanzbereitschaft der deutschen Gesellschaft gegenüberstehen.

Es ist die Aufgabe von Integrationspolitik, die Werte einer pluralistischen Gesellschaft zu vermitteln und das Miteinander von Deutschen und den hier lebenden Migrantlnnen zu verbessern. Hierzu gehört die Forderung von gegenseitiger Toleranz und die Akzeptanz von Verschiedenheit.

Dies schliesst auch ein, nationalistischen Ressentiments und Vorurteilen hier lebender Türkinnen gegenüber Kurdinnen entgegenzutreten. Andererseits sollten sich auch die kurdischen Migrantenverbände verstärkt ihrer Verantwortung stellen, zu einer Integration in die Aufnahmegesellschaft beizutragen, und hierzu ihre Aufgaben und Organisationsstruktur neu überdenken.

Dem gewachsenen Bewusstsein über die kurdische Problematik sollten u. a. folgende Handlungsschritte folgen:

Zum Abbau von Polarisierungen könnten z.B. positive Beispiele von Integration sowie konstruktiver Formen eines friedlichen Miteinanders modellhaft in der Öffentlichkeit dargestellt werden. Hier sind auf Bundesund Landesebene die Zentralen für politische Bildung sowie die staatlichen Institutionen, die Öffentlichkeitsarbeit betreiben, gefordert. Auch sollte ein veränderter und differenzierter Sprachgebrauch gepflegt werden. Publikationen, die von öffentlicher Seite erstellt, in Auftrag gegeben oder gefördert werden, könnten in dieser Hinsicht eine Vorbildfunktion übernehmen. In die richtige Richtung weist ein Beschluss des Bundestages vom 26.3.98 (BT-Drs. 13/9667) anläßlich des Europäischen Jahrs gegen Rassismus 1997, der an die Verleger und Journalistenverbände sowie die Fernseh- und Rundfunkanstalten appelliert, bei der Aus- und Fortbildung besonderen Wert auf die Förderung von Toleranz und die Akzeptanz ethnischer Minderheiten zu legen, für Angehörige ethnischer Minderheiten den Zugang zu Medienberufen zu verbessern, ferner die Medien als auch die Verbände der Werbeindustrie dazu aufruft, ihre Möglichkeiten zu nutzen, um ein realistisches Bild ethnischer Minderheiten in Deutschland zu vermitteln.

Zudem erscheint es notwendig, schrittweise die institutionelle Benachteiligung der kurdischen Migrantlnnen aufzuheben. Dazu sind die Beratungs- und Betreuungsdienste für Migrantinnen und Flüchtlinge stärker auf die Existenz der kurdischen Bevölkerungsgruppe auszurichten, insbesondere im Hinblick auf die wachsende Zahl der kurdischen Flüchtlinge, unter denen sich auch unbegleitete Minderjährige befinden. Initiativen zum generellen Angebot von Kurdisch-unterricht sowie Möglichkeiten zur Pflege und kritisch-konstruktiver Auseinandersetzung mit der kurdischen Herkunftskultur sollten befördert werden.

Das hier vorgestellte Forschungsprojekt kann nur ein erster Schritt sein und sollte durch weitere Studien zur Situation kurdischer Zuwandrerinnen ergänzt werden.

Ein solcher weiterer Untersuchungsbedarf besteht z.B. hinsichtlich traumatisierter Jugendlicher, die vor der Repression aus ihren herkunfts-staaten geflohen sind, hier unter erschwerten Lebensbedingungen auf wachsen und als „desintegrier.“ anazusehen sind. Für diesen Personenkreis sind noch kaum spezifizierte Hilfsangebote vorhanden.

Unser besonderer Dank gilt allen, die sich dafür eingesetzt haben dass die Studie realisiert werden konnte. Dem Arbeitsamt Bonn, das durch die Bewilligung der ABM-Maßnahme die personelle Ausstattung zur Durchführung der Arbeiten ermöglichte und das sich seit Beginn des Projektes äußerst kooperativ erwiesen hat, sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

Gleiches gilt für das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziale Stadtentwicklung, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen, de uns durch finanzielle Unterstützung die Durchführung des Forschungsprojects ermöglicht hat.

Großer Dank gebührt jedoch insbesondere den jugendlichen Interviewpartnern, die sich an der Befragung beteiligt und ferner zum Fortkommen der Studie durch Vermittlung von weiteren Interviewpartnern beigetragen haben. Zum Schluss danken wir den kurdischen Lehrerinnen sowie kurdischen Selbstorganisationen für ihre Vermittlung und Unterstützung, den Interviewerinnen sowie den Eltern der Jugendlichen für das Vertrauen in die Befragung ihrer Kinder einzuwilligen.

Wir bedanken uns bei Herrn Dr. Ulrich Brinkmann für die Ratschlägen im Vorfeld der Erhebung.
Für die wissenschaftliche Begleitung und Beratung des Projekts ge unser Dank an Herrn Professor Dr. Georg Auernheimer von der Universität Köln und den wissenschaftlichen Projektbeirat.

Metin Incesu



Das Forschungsprojekt und seine Ausgangsfragen

Die vorliegende quantitative Studie ist Teil eines Forschungsprojektes, das von NAVEND - Zentrum für kurdische Studien e.V. initiiert und durchgeführt wurde. Es trägt den Titel ’’Entwicklung und Erprobung eines adressatenspezifischen Integrationskonzeptes für kurdische
Migrantinnen in Nordrhein-Westfalen mit Schwerpunkt auf Jugendarbeit. 1
Dieses Projekt markiert den Einstieg in die Migrationsforschung zur kurdischen Einwanderergruppe. Die bisherige Vernachlässigung dieses Themas steht in einem krassen Missverhältnis zur zahlenmäßigen Präsenz von Kurdinnen in Deutschland. Navend e.V., 1992 gegründet, hat sich unter anderem zur Aufgabe gemacht, diesem Defizit entgegenzuwirken. Angesichts der vielfach klischeehaften Wahrnehmung der Kurdinnen in den Medien und der damit einhergehenden Stigmatisierung war es notwendig, mit einer aufklärenden Situationsanalyse zu beginnen. Dabei wurden Jugendliche kurdischer Herkunft besonders beachtet, weil auch sie unter die Angehörigen ihrer Herkunftsstaaten subsumiert werden und in der Öffentlichkeit mit ihren spezifischen Lebensbedingungen kaum wahrgenommen werden.
Gerade sie sind jedoch, im Unterschied zur Generation ihrer Eltern, in der Regel den Anforderungen an Orientierung im Aufnahmeland in einer bedeutenden Entwicklungsphase ausgesetzt.

…..

1 Der erste Schritt des Projektes war die qualitative Studie von Navend, die unter dem Titel ”Kurdisch-Sein und nicht -Sein” (Navend e.V. Schriftenreihe Bd. 3. 1998) veröffentlicht wurde. Sie gewährte Einblicke in Selbstbilder von 21 kurdischen Jugendlichen aus vier Herkunftsstaaten (Türkei, Iran, Irak und Syrien) und umfasste zehn Themenfelder: Migrationsgeschichte, Schule, Beruf, Sprache, Freizeit, Familie, Rassismus und Ausgrenzung, ethnische Orientierungen, Religion, Zukunftserwartungen. Die zweite Projektphase baute auf der qualitativen Studie auf. Sie umfasst neben der hier vorliegenden Studie eine Untersuchung der institutionellen Rahmenbedingungen, die für die Arbeit mit kurdischen Jugendlichen bedeutsam sind. Dazu zählen Einstellungen und Aktivitäten von Behörden, Institutionen und Wohlfahrtsverbänden zu Jugendlichen kurdischer Herkunft, sowie die Angebote kurdischer Vereine und Organisationen und deren Verständnis von der Integration Jugendlicher. Aufbauend auf den Ergebnissen wurden im Rahmen des Jugendprojektes von Navend e.V. Modellmaßnahmen zur Arbeit mit Jugendlichen entwickelt und erprobt, die an Träger der Migrations- und Jugendarbeit in Fortbildungsseminaren weiterempfohlen werden.




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