VORWORT
Schon vor dem Zweiten Weltkrieg, verstärkt aber danach, entschied sich die Türkei, ihren Platz an der Seite des Westens einzunehmen. Während die Türkei in den letzten Jahren sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik der Bundesrepublik nach und nach einen bedeutenderen Stellenwert erreicht hat, existieren in der bundesdeutschen Öffentlichkeit noch immer wesentliche Wissenslücken über das Land.
Nachdem die Türkei in den letzten Jahren von den Bundesbürgern als Reiseland entdeckt wurde und sie darüber hinaus auf die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft drängt, erschienen einige Sach- und mehrere Reisebücher über die Türkei, auch die Diskussionen über das Land belebten sich. Diese Bücher sind allerdings nur selten unter Einbeziehung türkischer Quellen verfaßt.
Insbesondere seit 1960 befindet sich die türkische Gesellschaft in einem äußerst komplizierten, schnellen und ständigen Umbruch. Dieser wird jedoch in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit oft ohne hinreichende Kenntnisse interpretiert. Zum Beispiel gilt in einigen Kreisen der Bundesrepublik die türkische Armee als Wächter und Retter der Republik, in anderen als böse Unterdrücker, wieder andere betrachten sie als das kleinere Übel. Die Militärputsche in der Türkei von 1960,1971 und 1980 werden fast immer einander gleichgestellt, ohne daß eine weitergehende Analyse erfolgt. Viele Bundesbürger lehnen die Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Gemeinschaft ab, weil die türkische Bevölkerung überwiegend der islamischen Glaubensgemeinschaft angehört. Derartige Feststellungen und Urteile werden in der Regel ohne ausreichende Hintergrundkenntnisse getroffen, und diese Beispiele ließen sich fortsetzen.
Die Autoren dieses Buches skizzieren mit ihren Beiträgen ein Panorama des mittlerweile ein viertel Jahrhundert andauernden Umbruchs in der Türkei. Sie versuchen, die Ursachen dieser Entwicklung zu analysieren und dem Leser Informationen zu vermitteln, die verschiedene Aspekte berühren, von der Rolle der Armee bis zu der der Religion in der Türkei, von der Arbeiterbewegung bis zur Verfassung, von der Außenpolitik bis zum Standort der Linken.
Den Herausgebern ist bewußt, daß in den vorliegenden Aufsätzen einige Aspekte von den Autoren unterschiedlich interpretiert und beurteilt werden. Wir betrachten es jedoch zum einen als Freiheit eines jeden Autors, gesellschaftliche Ereignisse individuell einzuschätzen, zum anderen zeigt dieses Spektrum, daß die Türkei sich auch in intellektueller Hinsicht bei der Einordnung der gesellschaftlichen und politischen Prozesse in einer Umbruchsituation befindet. Die Autoren eines Landes und deren Forschungsergebnisse sind außerdem auch eine Widerspiegelung ihrer Gesellschaft, wenn dieses Land sich gesellschaftlich und intellektuell in einem ständigen Wandel befindet.
Sollte dieser Band dazu beitragen, beim Leser die Kenntnisse über die Türkei zu erweitern, dann ist das Ziel der Herausgabe dieses Buches erreicht.
Yıldırım Dağyeli, İbrahim Halil Özak Juli 1989
Bülent Tanör
Der Verfassungswandel in der Türkei
Dieser Beitrag hat die Aufgabe, einige Grundtendenzen aufzuzeigen, die sich in den letzten dreißig Jahren in der Türkei abgezeichnet haben, und auf einige Einzelfragen einzugehen, die sich in diesem Rahmen stellen. Ziel ist es, einige Anhaltspunkte dafür zu finden, in welche Richtung ein Wandel in der Verfassung stattgefunden hat und diese Anhaltspunkte zu bewerten. Diese Tendenzen und Probleme wurden in zwei Gruppen zusammengefaßt eine von klassischem und universalem, die andere von spezifischem und speziellem Charakter. Die erste betrifft die Balance zwischen Autorität und Freiheit, das ewige Thema auch des westlich-liberalen Verfassungsdenkens. Die zweite besteht in dem für die Mehrheit der Länder der Dritten Welt und dabei auch für die Türkei typischen Problem des Verhältnisses von militärischer zu politischer Gewalt.
Die Grundlage für die beiden Gruppen bilden die Verfassungen von 1961 und 1982 sowie die sie umgebenden gesellschaftlichen, politischen, ideologischen und anderen Faktoren.
I. Ein klassisches Problem: Die Balance zwischen Autorität und Freiheit
In der Türkei, die im Jahre 1945 zum Mehrparteiensystem übergegangen war, herrschte bis 1960 in Theorie und Praxis das Prinzip der »reinen Volkssouveränität« vor, unter der jeder, der über die parlamentarische Mehrheit verfügte, sich ermächtigt glaubte zu tun, was er für richtig hielt. Die Wurzeln eines solchen Verfassungsverstaändnisses … |