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Die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit


Auteur :
Éditeur : Regener Date & Lieu : 2008, Berlin
Préface : Pages : 240
Traduction : ISBN : 978-3-936014-13-6
Langue : AllemandFormat : 145x210 mm
Code FIKP : Liv. Ger. Kiz. Geg N° 2778Thème : Général

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Table des Matières Introduction Identité PDF
Die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit

Die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit

Ilhan Kizilhan

Regener

Die Lebenserfahrungen eines jeden Menschen sind in seinem Gehirn gespeichert, die guten ebenso wie die schlechten. Sie machen dessen Individualität, Charakter und Identität aus. Durch diese Erfahrungen wird der Mensch unverwechselbar zu demjenigen, der er ist. So gesehen, macht sein Gedächtnis ihn erst zum Menschen, und deshalb gehört es zu den schlimmsten Dingen, die einem Menschen passieren können, keinen Zugang mehr zu seinen Erinnerungen zu haben. Es gibt jedoch auch Menschen, die nicht unter dem Verlust ihrer Erinnerungen leiden, sondern darunter, dass sie Geschehnisse nicht vergessen können bzw. ihnen die Erinnerungen daran nicht verloren gehen: So haben Personen mit schweren traumatischen Erlebnissen ein pathologisch gesteigertes Gedächtnis; insbesondere diejenigen, die infolge dessen eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickelt haben.
Auf der Basis der Erkenntnisse der modernen neuronalen Netzwerkforschung und der psychologischen Gedächtnisforschung geht der Autor davon aus, dass das Gedächtnis nicht nur abspeichert und wieder aufruft, sondern konstruiert, rekonstruiert, wieder konstruiert etc., und dass diese Prozesse von externen Faktoren beeinflusst werden. Folglich untersucht er den Zusammenhang von Lebenserinnerungen und Zeitgeschichte, und zwar daran, wie Zeitzeugen bzw. Opfer (Soldaten, Zivilisten und Flüchtlinge) ihre traumatisierenden Erlebnisse subjektiv rekonstruieren. Er behandelt thematische und strukturelle Aspekte der Erinnerungen sowie deren aktuelle Bedeutung und Funktion für die Betroffenen und legt eine Analyse vor, die von höchster Relevanz für die Klinische Psychologie, die Psychotherapieforschung und die Psychotraumatologie ist.
Aus dem Inhalt: Am Anfang war die Sprache: Mündliche Erzählungen / Erinnerung und Gedächtnis / Erinnerungen an außergewöhnliche, belastende Ereignisse / Sprache, Identität und Erinnerungen / Die Kommunikation der Gesellschaft über belastende Erlebnisse / Psychische Folgen der Kriegs- oder kriegsähnlichen Erlebnisse.


Ilhan Kizilhan, Dr. rer. soc., Diplom-Psychologe. Arbeitsschwerpunkte: Konflikt- und Friedensforschung, Migrationsforschung, Klinische Psychologie, Ethnopsychologie, Sozialisationsforschung, Psychotraumatologie.
Aktuelle Publikationen: Sozialisation im Krieg, 2004. Biographiearbeit für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund, 2005. Psychotherapieforschung zu Migranten, 2006. Potenziale und Belastungen psychosozialer Netzwerke in der Migration, 2007. Interkulturelle medizinisch-psychologische Begutachtung, 2007. Stressverarbeitung bei traumatisierten Soldaten, 2008. Jugendliche Migranten, Islam und Integration, 2008. Narrative Traumatherapie, 2008.



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ZUM UNTERSUCHUNGSDESIGN

Die Lebenserfahrungen eines jeden Menschen sind in seinem Gehirn gespeichert, die guten ebenso wie die schlechten. Sie machen dessen Individualität, Charakter und Identität aus. Durch diese Erfahrungen wird der Mensch unverwechselbar zu demjenigen, der er ist, und zu dem er sich beständig weiterentwickelt. Da, so gesehen, sein Gedächtnis den Menschen erst zum Menschen macht, könnte man behaupten, dass es für einen Menschen das Schlimmste ist, keinen Zugang mehr zu seinen Erinnerungen zu haben.

Es gibt jedoch auch Menschen, die nicht unter dem Verlust ihrer Erinnerungen leiden, sondern darunter, dass sie bestimmte Geschehnisse nicht vergessen können bzw. ihnen die Erinnerungen daran nicht verloren gehen. Personen mit schweren traumatischen Erlebnissen haben ein pathologisch gesteigertes Gedächtnis, d. h. eine Überfülle von bestimmten Erinnerungen an das Leiden, die sie nicht loswerden. Dies gilt insbesondere für jene, die wegen grausamer und belastender Erlebnisse eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickelt haben. Vor dem Hintergrund der Theorien zur Funktion neuronaler Strukturen aus dem Bereich der neuronalen Netzwerke und psychologischer Forschungen über das Gedächtnis (Loftus, 2003) ist davon auszugehen, dass das Gedächtnis kein passiver Speicher von Inhalten ist, sondern ein aktives System, dessen gespeicherte Inhalte bei jedem Prozess Abrufen durch ihre Aktualisierung verändert werden. Das heißt mit anderen Worten, dass das Gedächtnis nicht nur abspeichert und wieder aufruft, sondern konstruiert, rekonstruiert, wieder konstruiert etc., und es kann durch persönliche, soziale, politische, wirtschaftliche und andere Gedächtnisprozesse beeinflusst werden.

Gleichzeitig vollzieht sich das Erinnern in der Gemeinschaft und wird durch sie geprägt. Kultur kann auch als gemeinschaftliche Erinnerung definiert werden, deren Zweck gemeinschaftliches Leben und Handeln ist. Wenn Erinnerungen, individuelle und kollektive, verdrängt, tabuisiert oder verändert werden, ändert sich damit zwangsläufig die Kultur einer Gemeinschaft.
Gegenstand meiner Studie ist der Zusammenhang von Lebenserinnerungen und Zeitgeschichte in subjektiven Rekonstruktionen grausamer Ereignisse, die die Berichtenden als Teilnehmer, Zeuge oder Opfer miterlebten. Untersucht werden Aspekte des Umgangs mit der eigenen Vergangenheit sowie die Funktion von Erinnerungen. Im Zentrum der Untersuchung steht jedoch nicht die Frage, ob die Rekonstruktionen wahr oder glaubwürdig sind. Es geht vielmehr darum, zu ergründen, welche Inhalte thematisiert werden, wie diese strukturiert sind, welche subjektive Bedeutung sie heute haben und welche Funktion bestimmten
Erinnerungsgeschichten zukommt.

So sind autobiographische Erinnerungen zwar zunächst rein persönliche Angelegenheiten, doch sie können nicht losgelöst von zwischenzeitlichen Erfahrungen und von gesellschaftlichen Entwicklungen betrachtet werden.

Individuelle Erinnerungen sind eingebettet in die sozialen Zusammenhänge der engeren persönlichen und der weiteren gesellschaftlichen Umwelt derjenigen, die sich erinnern. Zur engeren persönlichen Umwelt zählen die Familie, der Freundeskreis, bei meiner Untersuchungsgruppe möglicherweise der Clan, die Sippe und der Stamm. Die weitere gesellschaftliche Umwelt schließt - vom Boten bis zu den modernen Medien - verschiedene Kommunikationsmethoden ein, die allgemein verfügbare Darstellungen und Deutungsmuster anbieten. Weder der persönliche noch der gesellschaftliche Kontext sind feste Größen sondern beide wandeln sich ständig und mit ihnen die individuelle Erinnerung, die wiederum in einer permanenten Wechselbeziehung mit ihnen steht und so auch auf sie zurückwirkt.

Weil zum Erinnern neben dem sozialen Rahmen auch die Funktion des Sprechens über Erinnerungen und der Umgang mit ihnen gehört, habe ich zusammen mit einer Gruppe von Interviewern verschiedene Gruppen aus unterschiedlicher Perspektive zu ihren Erinnerungen befragt. Das Thema Krieg und eventuelle traumatische Erfahrungen sind Anknüpfungspunkte für die Untersuchten und ermöglichen es, eine subjektive Rekonstruktion dieser Zeit zu erfassen. Beispiele dafür sind u. a. die Kämpfe im Nordirak (1979-1988), der Golfkrieg oder der bewaffnete Konflikt des türkischen Militärs mit der PKK (Partiya Karkeren Kurdistan - Arbeiterpartei Kurdistans). Gleichzeitig können aber auch länger zurückliegende Ereignisse sowie kriegerische Auseinandersetzungen bis zur Gegenwart mit in die Analysen einbezogen werden. Alle Befragten haben insofern eine gemeinsame Vergangenheit, als sie die gleiche Epoche erlebten. Die Zäsuren der jüngeren Zeitgeschichte zeigen sich in den Gestaltungen der Erinnerungen; in verschiedenen, durch individuelle Positionen und Entwicklungen bedingte Brechungen und Wertungen.

Erinnern im gesellschaftlichen Kontext zu untersuchen, heißt zu fragen: Woran erinnern sich die Menschen, die diese Zeit miterlebt haben? Was bedeuten ihnen diese Erinnerungen heute? Wie beschäftigen sie sich mit ihnen? Teilen sie ihre Erinnerungen mit anderen? Wie finden sie die Zeit, die sie miterlebt haben, in der heutigen medialen Gesellschaft dargestellt?
Die Grundlage meiner empirischen Studie sind ausführliche Interviews mit drei Gruppen von Zeitzeugen: Soldaten in der Türkei; Flüchtlinge aus der Türkei, die jetzt in Deutschland leben; und ältere Menschen, die vor ca. 50 Jahren die Verfolgung oder den Tod von Mitgliedern ihrer ethnischen oder religiösen Gruppe miterleben oder beobachten mussten.

Für die Umsetzung, die Operationalisierung meiner Fragestellung nutzte ich die Tatsache, dass durch den Kurdenkonflikt in der Türkei ein erbitterter Krieg zwischen der kurdischen Guerilla und dem türkischen Militär den Charakter der Gesellschaft in den letzten vierzig Jahren änderte. Soldaten, kurdische Guerilla und Tausende von Zivilisten kamen ums Leben. Flucht und Vertreibung verstärkten die psychosozialen Belastungen der Menschen.1 Soldaten berichten in verschiedenen türkischen Zeitungen über traumatische Erfahrungen während ihres Militäreinsatzes und deren Einfluss auf ihr heutiges Leben.2

Für die Interviews wurde ein Leitfaden entwickelt, der es erlaubt, zu erforschen, wie sich die Befragten mit der Erinnerung an bedeutende Lebensereignisse beschäftigen. Die Transkribierung der Interviews formte das empirische Material in verschriftete Selbstthematisierungen um, in denen Personen ihr Selbst und die für sie gefahrvolle Welt, die sie mit ihrem Handeln zu gestalten versuchen, selektiv zur Sprache bringen. Die Analyse der individuellen Erinnerungsgestaltung ist für die Klinische Psychologie und die Psychotherapieforschung relevant. Die Bedeutung von Erinnerungen und das Sprechen über bestimmte Themen zur Bewältigung von belastenden Ereignissen sind Bestandteile einer Psychotherapie. Die Tatsache, dass viele Menschen aus dem Mittleren Osten - so auch unsere Probanden -, aus kollektiven Kulturen und oralen Gesellschaften kommen, in denen das Erzählen und Narration wichtige Elemente einer stabilen Ich-Identität (Kizilhan, 2007a) sind, bestärkte mich in meinem Vorhaben. In der narrativen Psychologie (Lucius-Hoene, 2004), der narrativen Expositiontherapie bei PTBS (Schauer et. al., 2005), der Biographieforschung (Strube, Weinert, 1987), der Theorie über die Wirkung der Sprache auf den Heilungsprozess (Pennebaker, 2004) und in der Sozialarbeit (Fuchs-Heinritz, 2000) ist die Bedeutung narrativer Elemente für Therapie und Beratung bekannt.

Die Untersuchung von Personen mit traumatischen Erlebnissen kann wichtige Impulse für den Umgang mit Patienten mit einer PTBS in der Therapie geben; möglicherweise kann sich die Einbettung der persönlichen und gesellschaftlichen Erinnerungen positiv auf den Umgang mit Traumata auswirken. Die intensive, bewusste und vorsichtige Reaktivierung von Erinnerungen kann Patienten zu einem anderen Verständnis und Umgang mit dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis führen.

Bislang liegen in der Psychologie weder eine einheitliche Theorie noch eine Methodologie zum wissenschaftlichen Umgang mit autobiographischem Erinnern vor. Daher ziehe ich in meiner Arbeit für die Fragestellung relevante Ansätze aus unterschiedlichen Bereichen der Psychologie heran. Darüber hinaus ist die Beschäftigung mit Beiträgen angrenzender Disziplinen notwendig.

1 United States Committee for Refugees (USCR) (1998), The Wall of Denial: Internal Displacement in Turkey,Washington D.C., sowie HRW (Human Right Watch), "Displaced and Disregarded: Turkey's Failing Village Return Programme”, 2002.
2 Vgl. türkische Tageszeitung Hürriyetvom 31.08.2005.



2

Am Anfang war die Sprache: Mündliche Erzählungen

Wörtlich übersetzt bedeutet Oral History mündliche Geschichte. Im Englischen umfasst dieser Begriff jedoch auch die während eines Gespräches oder Interviews von einer Person erinnerte und von ihr mündlich wiedergegebene Vergangenheit. Die Oral History ist also grundsätzlich ein retrospektives Erhebungsverfahren. Es geht nicht - wie etwa in empirischen Umfragen - um Ansichten oder Bedeutungen von vergangenen und erinnerten Ereignissen bzw. Vorkommnissen in der Gegenwart, sondern um Ansichten und Bedeutungen in der Vergangenheit. Das Problem besteht darin ist, dass die jeweils aktuelle Erinnerung an ein Ereignis in der Vergangenheit von allen Erlebnissen in der Zwischenzeit (vom Zeitpunkt des Erinnerten bis zum Zeitpunkt der Erinnerung) geprägt ist. Die Oral History dient den Historikern zunächst zur wissenschaftlichen Erfassung der Vergangenheit als ehemals aktuelle Gegenwart als Möglichkeit, die andere Erhebungsverfahren bzw. Quellenmaterialien nicht bieten können. Stets aber bleibt die interviewte Person im Mittelpunkt und sie allein hat das Recht, sich so und nicht anders oder überhaupt nicht zu erinnern. Ein Oral-History-Interview darf deshalb niemals ein Verhör, ein
"Ausfragen" werden oder etwa auf Korrektur der Aussagen des Interviewten hinauslaufen.
Jedoch kann es durchaus verschiedene Ziele verfolgen:

- die Erfassung von Vorkommnissen vor allem aus dem individuellen Bereich,
- die Kontrolle anderer Quellen (auch schriftliche Quellen können "falsch" oder lückenhaft sein),
- die Erfassung von Vorkommnissen in ihrer Bedeutung für die interviewte Person,
- die Erfassung eines Lebenslaufes oder zumindest eines charakteristischen Teiles desselben in seinem systemischen Zusammenhang,
- den einfachen Menschen, die keinen Zugang zu den Medien haben, die Möglichkeit zu geben, sich zur Geschichte zu äußern.

Es geht nicht um das Erfragen von Fakten aus einem abrufbaren Gedächtnis. Der Interviewer kann aber das Ziel verfolgen, eine Person überhaupt erst zur Erinnerungsarbeit zu animieren, wobei er dem Modell folgt, dass Gedächtnisinhalte nicht etwas Abrufbares sind, sondern dass Erinnerung durch Erinnerungsarbeit zu Stande kommt.

……




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