Einleitung: Kurdistan und Europa
Hans-lukas kieser
Diese Einleitung hat drei Ziele: In erster Linie will sie in die Thematik und die einzelnen Beiträge des vorliegenden Buches einführen. Es sollen aber auch die grundsätzlichen Schwierigkeiten der Forschung im kurdischen Bereich angesprochen und ein aktueller Bezug zur kurdischen Thematik kurz skizziert werden.
Zuerst ein Wort zur Entstehung dieser Publikation. Im Spätherbst fand an der Universität Basel eine im Rahmen der Volkshochschule organisierte Vortragsreihe zur kurdischen Geschichte statt. Die meisten der dort gehaltenen Referate liegen nun - zum Teil in erweiterter Form - schriftlich vor. Die Beiträge stammen etwa je zur Hälfte aus kurdischer und aus Schweizer Feder. Mit Ausnahme A. Hottingers handelt es sich um relativ junge Forschende, die Teile ihrer Arbeit vorstellen.
Der Untertitel des Buches «Einblicke in die kurdische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts» macht deutlich, dass hier kein Übersichtswerk vorgelegt wird, sondern vertiefende Studien zu einzelnen Aspekten. Die verschiedenen und verschiedenartigen Einblicke haben einen gemeinsamen roten Faden: Kurdistan und Europa - präziser: die ganze westliche Welt -in ihrer wechselseitigen Verflechtung. Umfangreiches Quellenmaterial wird ausgebreitet, wobei einzelne Dokumente hier erstmals zur Veröffentlichung gelangen.
Zur thematik
Die Verflechtung Kurdistans mit dem Westen ist vielschichtiger Natur: mental, ideologisch, politisch und schliesslich auch wirtschaftlich (Öl). Von einzelnen Reisenden und Missionsstationen früherer Jahrhunderte abgesehen beginnt sie mit dem Eindringen amerikanischer und europäischer Missionare sowie europäischer Konsuln noch vor der Mitte des letzten Jahrhunderts, was seinen Höhepunkt im sogenannten Zeitalter des Imperialismus findet. Die christlichen Minderheiten (armenische, assyrische und griechische Christen) geniessen privilegierte Beziehungen mit diesen westlichen Repräsentanten und werden in deren Missionsschulen ausgebildet. Der militante Teil der armenischen Jugend lehnt sich gegen Ende des Jahrhunderts zum Leidwesen der Missionare stark an europäisch-revolutionäres sowie nationalistisches Gedankengut an. Dieses findet bei den Kurden erst eine Generation später, zum Teil schon in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in İstanbul, hauptsächlich erst danach Eingang, wird aber alsbald durch den ebenfalls späten, überaus virulenten türkischen Nationalismus an den Rand gedrängt.
Der grösste Teil des kurdischen Volkes sieht sich 1923 in den Grenzen des eben gegründeten türkischen Nationalstaates eingeschlossen und jeglicher, und sei es nur kultureller, eigenständiger Entwicklungsmöglichkeit beraubt. Dabei beruft sich gerade dieser Staat auf europäische Prinzipien. Die Tiefenstruktur der Aufteilung und Marginalisierung in einem Nahen Osten junger nationalistischer Zentralstaaten ist bis heute dieselbe geblieben. Die von Europa wenig beachteten blutigen kurdischen Aufstände in der Türkei der Zwischenkriegszeit, die Appelle kurdischer Intellektueller an den Westen (Völkerbund, UNO), die Mahabad - Episode, der bewaffnete Kampf der Kurden im Irak (mit Unterbrüchen) seit den 1960er Jahren und derjenige in der Türkei seit den 1980er Jahren wie auch die humanitäre Operation (Provide Comfort mit der Einrichtung der UNO - Schutzzone im kurdischen Nordirak (1991) haben an dieser Grundstruktur nichts ändern können. Und selbst das seit 1991 de facto laufende eingegrenzte Autonomie-Experiment der nordirakischen Kurden kann wegen des internen Zwistes kaum als geglückt bezeichnet werden.
Und doch müssten Schritte zu einer Lösung der kurdischen Frage von (föderalen) Autonomien oder Teilautonomien innerhalb bestehender Staatsgrenzen ausgehen, um Grenzstreitigkeiten mit unabsehbaren Folgen zu vermeiden; Autonomien, die über die Förderung grenzüberschreitender Kontakte zu einer Art Kurdischen Regio führen könnten, die im heutigen strapazierten Verhältnis der Anrainerstaaten und im Kontext Clan-bezogener, unglaubwürdiger kurdischer Eliten vor Ort zwar irreal erscheint, aber langfristig die kurdischen Hauptbegehren nach ethnisch-kultureller und wirtschaftlicher Aufwertung befriedigen und damit eines der - neben dem palästinensischen - explosivsten nahöstlichen Probleme entspannen könnte.
Welche Staaten - und damit ist wieder der potente Westen angesprochen - wären so mutig, weitsichtig und intelligent, um sich bilateral, in der Staatengemeinschaft und bei der auf die Türkei grössten Einfluss ausübenden NATO dafür stark zu machen?
Zu den einzelnen beiträgen
Im einführenden Artikel Arnold Hottingers wird die angesprochene europäisch-kurdische Verstrickung vor allem anhand des millet-Systems vorgeführt, das in den Strudel der westeuropäisch inspirierten Nationalismen gerät, wobei die Kurden fast systembedingt zu Verlierern wurden, zumal ihnen die Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg keine nationalstaatliche Geburtshilfe leisteten wie etwa den arabischen Nicht-millet-Völkern. Tanja Dunckers Einblicke in die kurdische Literatur halten einen Strauss von Fremdem und doch auch Nahem entgegen. Nah nicht nur, weil «ewige» Themen wie Liebe und Trauer thematisiert werden, sondern auch, weil kurdische Autoren, die sie zitiert, bei uns in der Nähe im Exil leben. Fremd nicht nur, weil der kulturelle Kontext anders ist oder die mündliche Literatur ein ganz anderes Gewicht hat, sondern auch, weil - für Europa - lapidare Bedingungen von Literatur überhaupt zur Diskussion stehen. Dunckers Beitrag enthält auch einen Brief des aus Diyarbakir stammenden, in Uppsala im Exil lebenden kurdischen Literaturwissenschaftlers Mehmet Emin Bozarslan an die UNESCO. Er wurde nie beantwortet und stellt ein beredtes, letztlich erschütterndes Dokument für die Nichtanerkennung kurdischen kulturellen Schaffens nicht allein, wie bekannt, durch Staaten wie die Türkei, sondern eben auch durch die etablierte internationale Staatengemeinschaft dar.
Hamit Bozarslans Beitrag geht der Frage nach Rolle, Ausmass und Grenze staatlicher und nichtstaatlicher Gewalt im politischen Geschehen Kurdistans vom Ersten Weltkrieg bis in die nächste Gegenwart nach. Gewalt ist ein klar dominanter, aber nicht der einzige wichtige Aspekt im Verhältnis der Kurden zu den Staaten, auf die ihr Siedlungsgebiet aufgeteilt ist. Der Autor kommt zum Schluss, dass es auch in diesem Verhältnis einen «Grenzwert» an Gewalt geben müsse, welchen zu überschreiten auch innerhalb der eingespielten, für mache Akteure «rentablen» Gewaltmechanismen keinen politischen Gewinn mehr ergeben könne. Einem solchen Grenzwert stehe die Türkei mit ihrem schon über zwölfjährigen blutigen Kurdenkrieg am nächsten.
Hasan Gökes Aufsatz beschäftigt sich eingehend mit Bedir Khan Bey. Dieser kurdische Emir verlor Mitte des 19. Jahrhunderts trotz effizienter Verwaltung seines Territoriums seine Macht und musste ins kretische Exil ziehen. Der Autor geht ausführlich auf die Auseinandersetzung mit dem gestrafften osmanischen Zentralstaat, die Einmischung der europäischen Grossmächte wegen der nestorianischen Frage und die Rolle der christlichen Missionen ein. Er macht die zunehmende Verunsicherung des erfolgreichen und selbstgewissen sunnitisch-kurdischen Machthabers, der nicht aufhört, seine Treue zum Sultan-Khalifen zu beteuern, auf tragische Weise deutlich.
Der Beitrag Hans-Lukas Kiesers über die christlichen Missionen im spätosmanischen Kurdistan schliesst nahtlos an, indem er die für die Frage nach der Rolle der Missionen exemplarische Bedir-Khan-Episode nochmals aufgreift. An diesem und an weiteren Beispielen erweitert und vertieft er die Diskussion über Auftreten und Auswirkung der verschiedenartigen, vom nahöstlichen «Bibel-Land» faszinierten Missionen aus dem «christlichen Abendlande». Er zeigt deren einseitige Ausrichtung auf die christlichen Minderheiten innerhalb der ethnisch gemischten Gebieten des damaligen Kurdistans, aber auch die späten Korrekturversuche dieser als problematisch erkannten Missionsstrategie.
Hamit Bozarslans zweiter Aufsatz befasst sich mit der Beziehung der kurdischen Mehrheit zur wichtigsten christlichen Minderheit in der Region, den Armeniern, deren politisch-revolutionäre Avantgarde sich um die Jahrhundertwende am Fortschrittsdenken der französischen Revolution und am sozialistischem Gedankengut, das sie der «asiatischen Finsternis» entgegenhielten, orientierte. Er zeigt, wie es aus einem relativ friedlichen, geklärten, aber wohlverstanden hierarchischen Verhältnis dieser beiden Gruppen zu Spannungen, Missverständnissen und schliesslich zu einem tiefen, für beide Teile schmerzlichen, durch den Völkermord von 1915 schwer belasteten Zerwürfnis kommt, das, obwohl die Kurden bald darauf selber zu Opfern werden, trotz Annäherungen bis heute nicht überwunden ist. Weder die betroffenen Völker (Kurden, Armenier, Türken) noch ihre respektiven Geschichtsschreibungen haben einen von nationalistischen Verzerrungen unverstellten Blick auf die gemeinsame Vergangenheit (zurück) erlangt.
Dies wird auch beim 1973 in Aleppo verstorbenen kurdischen Intellektuellen Nuri Dersimi deutlich, der im Zentrum eines weiteren Beitrages von Hans-Lukas Kieser steht. Liebe zu den »armenischen Brüdern», mit denen er im osmanischen Dersim in enger Gemeinschaft aufgewachsen ist, vermengt sich mit zum Teil bitteren Ressentiments im Hinblick auf die folgenden Jahrzehnte. Dieses Verhältnis ist allerdings nicht das Hauptthema des Beitrages, der einen hierzulande praktisch unbekannten kurdischen Autoren des 20. Jahrhunderts näherzubringen versucht, dabei aber nicht mehr als einen ersten Schritt in Sachen Quellenforschung, Diskurs- und Themenanalyse zu machen beansprucht. Er zeigt das gleichsam exemplarische Exil eines kurdischen Patrioten, der den realpolitischen Kampf in seiner Heimat in den Umbruchsjahren nach dem Ersten Weltkrieg verloren hat, den frostigen Wind der hypernationalistischen jungen Republik Türkei erfährt, den kurdischen Kampf vor Ort als aussichtslos durchschaut, alles, auch die Familie, zurücklässt und an einem Septembertag des Jahres 1937 weggeht. Er wendet sich nach und an Europa, wird rasch belehrt, dass dort kein Asyl zu finden ist, schreibt von seinem syrischen Exil aus, das ihn vor den Nachstellungen des türkischen Geheimdienstes nicht bewahren kann, unbeantwortete Briefe an den Völkerbund und kann nie mehr den Weg zurück in die gewaltsam veränderte Heimat finden.
Der letzte Beitrag - wiederum von Hamit Bozarslan - wirft ein grelles Licht auf den kemalistischen Umgang mit der Kurdenfrage, der im Beitrag zu Nun Dersimi bereits Konturen gewann. Er zeigt, wie Mustafa Kemal im Interregnum der Jahre 1919-1922 die Verbrüderung mit der Mehrheit der Kurden erreicht, die ihm im sogenannten Unabhängigkeitskrieg gegen die Siegermächte des Ersten Welkriegs zur Seite stehen. Dies gelingt ihm, indem er das gemeinsame islamische Banner hochhält, die Angst vor den armenischen Ansprüchen auf weite Teile Nordkurdistans schürt und eine künftige kurdische Autonomie genauso lange nicht zurückweist, bis der Unabhängigkeitskrieg entschieden ist (1922). Bozarslan legt dar, wie die von Mustafa Kemal geprägte junge Republik Türkei den aggressiv nach innen, gegen die Minderheiten, gekehrten Nationalismus direkt von den Unionisten (dem jungtürkischen Komitee für Einheit und Fortschritt) übernimmt und ihre Ein- und übergriffe in Kurdistan mit dem Schlüsselbegriff medeniyet (Zivilisation), der Türkisierung beinhaltet, rechtfertigt. Ihrer von Gewalt - Feldzüge, Deportationen, Polizeimassnahmen - geprägten Politik liegt aber auch tiefe Angst vor dem Verlust des Ostens (Ostanatoliens) zugrunde, von wo aus Mustafa Kemal den Unabhängigkeitskrieg angestrengt hat.
Der Kemalismus greift europäische, insbesondere französische Prinzipien auf - Nationalstaat, systematische Verdrängung anderer Sprachen zugunsten der einen Nationalsprache, Unterstellung der Religion unter den Staat (nicht Trennung von Religion und Staat), Volksschule und Volksarmee als «.Schulen der Nation» usw. - und spitzt sie im wiederum europäischen Zwischenkriegskontext von Faschismus und Autokratie zu. Er erlebt im Gegensatz zu Europa nie einen wirklichen Bruch, auch nicht mit der Einführung des Mehrparteiensystems nach dem Zweiten Weltkrieg und schon gar nicht bezüglich seiner Kurdistanpolitik.
Zur situation der kurdologie
Martin van Bruinessen, einer der Referenten der Vortragsreihe in Basel, war es wegen Arbeitsüberlastung nicht möglich, seinen Artikel zur kurdischen Gegenwartsgeschichte termingerecht zu verfassen, und zwar aus grundsätzlich erfreulichem Anlass: Er lehrt seit Herbst 1996 als Gastprofessor der Kurdologie an der Freien Universität Berlin. Und damit ein paar Worte zur Forschung im kurdischen Bereich (Kurdologie).
Kurdologie kann heutzutage in Westeuropa einzig in Paris studiert werden. Dem klugen und effizienten Lobbieren der rührigen Kurdistan-Arbeitsgruppe an der FU Berlin sind die erwähnte, auf ein Jahr befristete Gastprofessur wie auch Ringvorlesungen in den beiden vorangegangenen Jahren zu verdanken. Forschung zu kurdischen Themen ist auf Nischen angewiesen: auf hartnäckige kurdische Intellektuelle im Exil; auf Leute, die einen Brotberuf haben und sich ihr nebenbei widmen; auf Unentwegte, die mit wenig Mitteln und wenig Aussicht auf Karriere ihren Studien im Bereich der Kurdologie nachgehen. Sie geniesst nicht wie andere Forschungszweige entweder die Unterstützung des Staates oder internationaler Konzerne. Ein einzelner Schweizer Kanton wie gegenwärtig beispielsweise St. Gallen stellt - erfreulicherweise - Millionenbeträge an Schweizer Franken für die Aufarbeitung seiner eigenen Geschichte bereit, Kurden können davon nur träumen. Dabei gibt es eine grosse Zahl höchst relevanter und spannender Themen zu erforschen, Mythen zu hinterfragen, Quellen zu erschliessen, Netzwerke aufzubauen.
Kurdische Forschung birgt zudem für alle, die sich ernsthaft darauf einlassen, das existentielle Risiko des verschlossenen Zugangs zu den unabdingbaren osmanischen Archiven mit sich, zweifellos ein wichtiger Grund, warum sich ihr so wenige Orientalisten und Osmanisten widmen, nachdem sie ihre langwierige sprachliche und historische Ausbildung bestanden haben. Um so verdienstvoller sind die beachtlichen Leistungen, die auf diesem Gebiet meist von einzelnen oder kleinen Gruppen in den letzten zehn, zwanzig Jahren erzielt worden sind. Dazu gehören die Arbeiten auf solider Quellengrundlage von Martin van Bruinessen, Hamit Bozarslan und mancher anderer1 Trotz bester Qualifikationen ist es für solche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fast aussichtslos, zu einer festen Anstellung oder gar Professur, die ihrem Spezialgebiet Raum gibt, zu gelangen. Oder würde trotz um sich greifender universitärer Sparmassnahmen bald irgendwo ein mutiges, kluges Zeichen gesetzt?
Zur aktualität
Wohl nicht ganz zufällig hat die eingangs erwähnte Vortragsreihe in Basel stattgefunden. Basel ist gewiss die kurdischste aller Schweizer Städte und Regionen, nicht allein vom prozentualen Bevölkerungsanteil her, der schwer zu beziffern ist,2 sondern auch von der spürbaren Präsenz auf den Strassen, im Tram, in Läden, Spielplätzen und Schulen her.
Während das ethnische Selbstverständnis der vor allem linken Oppositionellen, die in den Jahren nach dem türkischen Militärputsch von 1980 nach Basel gelangten, erst an zweiter Stelle stand, hat seit Ende der 1980er Jahre die ethnische Identität der hiesigen türkischen und kurdischen Kreise an Prägnanz gewonnen. Selbst der Basler Alevitenvereinigung - und das Alevitentum ist bei aller Verborgenheit ein stark einigendes Identitätsmoment - steht eine militant kurdisch-alevitische Gruppierung gegenüber.
Die Aufwertung des Ethnischen hat natürlich mit den weltpolitischen Veränderungen, dem Ende des «realexistierenden Sozialismus» und dem Auseinanderbrechen des Blocksystems zu tun, das die einzelnen Grossgruppen weg von grossen Ideologien wieder auf ethnische Definitionen zurückwirft. Aber sie hängt in unserem Fall speziell mit der Ausweitung des 1984 begonnenen Krieges zwischen kurdischer PKK (Arbeiterpartei) und dem türkischen Staat zusammen; diese Konfrontation verlief immer mehr nach der Parole «wer nicht für mich, ist gegen mich». Hiesige kurdische Landsleute und Ladenbesitzer erleben sie in Form eines mehr oder weniger spitz formulierten Zwangs zu - natürlich «freiwilligen» - Zahlungen an die Arbeiterpartei.
Die systematische Zerstörung kurdischer Dörfer durch die türkische Armee seit Beginn der 1990er Jahre, ganz besonders in Dersim (Tunceli), woher manche Basler Flüchtlinge oder Migranten stammen,3 hat eine grosse Öffentlichkeit in der Türkei und in Europa aufgerüttelt und die direkt oder indirekt Betroffenen zusätzlich verbittert.
Trotz der angesprochenen verstärkten Polarisierung erscheint die kurdisch-türkische «Menschenlandschaft» (mit einem Wort Nazim Hikmets) in der Region Basel noch durchaus pluralistisch. Es gibt wertvolle neutrale, verbindend wirkende Selbsthilfe- und Beratungsangebote wie den Türkdanış (seit 1985). Es existieren verschiedenste religiöse, kulturelle und politische Gruppierungen und Grüppchen, wovon einige einander spinnefeind sind, aber sie haben meist den nötigen Freiraum, um sich nicht zu sehr zu stossen. Grössere, auch ethnisch übergreifende Sammelbewegungen sind seit anfangs der 1980er Jahre bis heute nie richtig in Schwung gekommen. Ob es der kürzlich sowohl in der Türkei als auch in Europa und Basel gegründeten alternativ-linken özgür Demokrasi-Bewegung anders ergehen wird?
Banal und doch grundlegend wichtig zu sagen, dass ein offener, unverkrampfter und vernünftiger Diskurs mit unverstelltem Blick auf die Entstehung dieser Frage not tut und dass dies von aussen her viel einfacher ist als im Lande selber, wo die Mechanismen von Terror und Krieg und eine höchst fragwürdige Staatsräson Jahr für Jahr den längst fälligen Dialog vertagen. Das vorliegende Buch möchte sich als bescheidenen wissenschaftlichen Beitrag in dieser Sache verstanden wissen.
Anmerkungen
1 Erwähnt sei an dieser Stelle auch David MacDowalls neu erschienenes, sorgfältig verfasstes überblickswerk: A Modern History of the Kurds, London (I.B. Tauris), 1996.
2 Von den rund hunderttausend in der Schweiz lebenden und aus der Türkei stammenden Personen sind schätzungsweise die Hälfte kurdischer Herkunft, wiederum schätzungsweise rund ein Viertel davon lebt in der Region Basel.
3 Minutiöser Bericht darüber mit ausführlicher historischer Einleitung: Zwangsräu mung und Zerstörung von Dörfern in Dersim (Tunceli) und im westlichen Teil von Bingöl, Türkisch-Kurdistan, im September-November 1994, Amsterdam (Stichting
Nederland-Koerdistan/Netherlands Kurdistan Society), 1995.
Kurdistan ohne staat - Zur leidensgeschichte der Kurden
Arnold Hottinger
Die jüngste Geschichte und Leidensgeschichte der Kurden versteht man am besten, wenn man sie in den Zusammenhang des Auflösungsprozesses des Osmanischen Reiches stellt. Die Völker des Vielvölkerstaates der «Pforte» haben sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts als Nationalstaaten konstituiert, indem sie sich vom Osmanischen Reich loslösten und eigene Staaten bildeten. Dieser Vorgang lief nicht ohne bittere Kriege ab. Die Reihe der blutigen «Befreiungskriege» der verschiedenen Völker, die zum Osmanischen Reich zusammengeschlossen waren, zog sich durch das ganze Jahrhundert hindurch und fand ihren Abschluss erst damit, dass die Türken sich selbst - nach dem Zusammenbruch ihres Vielvölkerstaates im Ersten Weltkrieg, unter der Führung Atatürks - aus dem Trägervolk des Reiches zu einem türkischen Nationalstaat formierten.
Das Jahrhundert begann mit den Unabhängigkeitskriegen oder -erhebungen der Serben (seit 1803) und Griechen (seit 1821), ging weiter mit dem zähen Ringen um Nationalstaatlichkeit der Serben (Erhebungen 1806, 1812, 1830, 1878), der Maroniten und Drusen vom Berg Libanon (1860), der Rumänen (1878), der Bulgaren (1876 und 1878), Armenier (18901903 und später), der Albanier (1912), Araber (seit 1913), Türken (19211924) und der Kurden (1925 bis heute).
Die Bildung von Nationalstaaten schritt im grossen und ganzen von Westen nach Osten vor. Was natürlich war: die Idee des Nationalstaates, entwickelt im Frankreich der Revolution und der auf sie folgenden Jahrzehnte, stammte aus dem Westen. Sie breitete sich zuerst unter den westlichen Untertanenvölkern des Osmanischen Reiches aus, die im übrigen auf Unterstützung durch die europäischen Völker und Grossmächte zählen konnten, ganz besonders die Griechen seit dem Beginn ihrer Erhebung von 1821 (die übrigens erst 1912 mit der Einverleibung Kretas in die griechische Nation ihren vollen Abschluss finden sollte).
Die westlichen Völker des Osmanischen Reiches besassen alle eine grundlegend wichtige Institution, die die Bildung von Nationalstaaten erleichterte: sie verfügten über eigene Kirchen. Diese bestanden schon vor der Eroberung durch die Osmanen, und sie überdauerten alle Jahrhunderte der…