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Geographie der Unterdrückten


Auteur : Jürgen Roth
Éditeur : Rowohlt Date & Lieu : 1978, Hamburg
Préface : Pages : 334
Traduction : ISBN : 3 499 17125 2
Langue : AllemandFormat : 125x190 mm
Code FIKP : Liv. Ger. Rot. Geo. 658Thème : Général

Geographie der Unterdrückten

Geographie der Unterdrückten

Jürgen Roth

Rowohlt


Geographie der Unterdrückten meint den Versuch, uns von den Schablonen eines Geographieunterrichts zu lösen, der von Ländern und Völkern handelt, ohne eine konkrete Vorstellung von den Menschen zu vermitteln, die dort leben, leiden und kämpfen - oder gar in Gefahr sind, als Opfer nationalistischer Interessen ausgerottet zu werden. Am exemplarischen Fall der Kurden arbeiten die Berichte Jürgen Roths und seiner Mitautoren die nachvollziehbare Möglichkeit politischgeographischen Lernens heraus, das weder folgenloses Mitleid weckt noch sich in der Analyse abstrakter ökonomischer Gesetze um seine Wirkung bringt. Die Geschichte der Kurden, die die Geschichte ihrer Unterdrückung, aber auch der Behauptung ihrer Identität ist. die Zeugnisse ihres kulturellen und sozialen Lebens provozieren die Einsicht, daß Widerstand notwendig ist. wenn Völkermord eine stillschweigend akzeptierte Form des Umgangs mit nationalen oder sozio-kulturellen Minderheiten zu werden droht.



Jürgen Roth, 1945 in Frankfurt geboren. Journalist und Schriftsteller. Nach mehrmaligen längeren Türkei- und Kurdistanaufenthalten 1976 aus der Türkei ausgewiesen, wegen Kontakten zur kurdischen Opposition. Die Regierung in Ankara erklärte ihn zum «Türkenfeind». Veröffentlichungen u. a.: «Partner Türkei oder Foltern für die Freiheit des Westens» (zusammen mit B. Brigitte Heinrich), «Armut in der BRD», «Z. B. Frankfurt: Zerstörung einer Stadt», «Aufstand im wilden Kurdistan».

 


Inhalt


Vorwort / 9

1. Kapitel

I. Die widersprüchliche Geschichte des kurdischen Volkes / 15

II. Die Geschichte des Fürstentums von Bitlis / 28

III. Die Kurden im politischen Aufbruch / 50

IV. Das Ende der kurdischen Selbständigkeit / 53

V. Der nationale Befreiungskrieg Mustafa Kemals / 60

VI. Ismail Beșikçi
Die Entwicklung des nationalistischen Kemalismus als Ursache
für die Unterentwicklung Kurdistans / 69
1945: Der Übergang zum Mehrparteiensystem / 69
Nation und Nationalismus als unvermeidliche Folge der Entwicklung
zum Kapitalismus / 71

VII. Die Kurden-Republik Mahabad     / 76

2. Kapitel

Hemres Reso
Materialien zur Entwicklung der kurdischen Literatur / 81

3. Kapitel

Abdul R. Ghassemlou
Bericht über Iranisch-Kurdistan / 100

Die Bevölkerung / 100
Die Religion / 103
Sprache und Literatur / 103
Erziehung und Bildung / 105
Das Gesundheitswesen / 106
Die ökonomischen Verhältnisse / 106
Die Sozialstruktur / 108
Die Politik des Schahregimes im iranischen Kurdistan / 110
Vorzeichen des Erfolgs / 112

Nader Ebrahimi
Unmöglich / 113

4. Kapitel

Kurdisches Leben in der Gegenwart / 118


Paul Rotkopf
Beobachtungen und Bemerkungen über eine kurdische Bevölkerungsgruppe / 118
Die ihrer Hände Herr sind / 122
Die ihrer Zunge Herr sind / 129
Die ihrer Lenden Herr sind / 135

Bekir Yildiz
Reso Aga / 139

Hanneke Garrer, Adrienne Schürenberg Frauen in Kurdistan
Ein Bericht aus dem Leben der kurdischen Frauen / 145
Vorbemerkung / 145
1. Der Empfang / 147
2. Grüne Haushaltsseife / 151
3. Die Arbeit im Dorf lastet auf dem Rücken der Frauen / 155
4. Zuckerstücke / 161
5. Bräute / 163
6. Hochzeit / 166

Yasar Kemal
Diyarbakir / 171

«Anpassen oder vernichten» / 178
Die Assimilations- und Kolonialpolitik der türkischen Regierungen
von 1945-1977 gegenüber den Kurden

Die Politik der gezielten Benachteiligung / 187

Mechanisierung und Vertreibung / 200

Das Gesundheitswesen in Ostanatolien / 205
Krankenversicherung 206 Ärztemangel / 206
Apotheken und Medikamente / 210

Ein kurdisches Dorf / 216

Die Landreform / 217

Landbesetzungen und Terror / 221
Industrialisierung und Untere ntwicklung / 225

Mahmut Makal
Unsere Schule / 228

Die kulturelle Unterdrückung / 232

Türkischer Nationalismus: Graue Wölfe und Koranschulen / 234

Kultur und politisches Bewußtsein / 237

Sivan - ein kurdischer Freiheitssänger / 245
Wo ist mein Kurdistan? 246 Revolutionäre Patrioten 247

Naturkatastrophen und Völkermord auf Raten — Erdbeben in Ostanatolien / 248

Nazim Hikmet,
ein Beispiel politischer Zensur / 255

Die doppelte Unterdrückung Kurdistans durch Militär und Polizei / 257

Terror - Folter - Mord - Flucht
Eine Chronologie / 262

Die Kurden im Irak / 273
Gespräch mit einem Peshmerga-Offizier 307 Ein kurdisches Volkslied aus der Zeit des Befreiungskampfes 1975 310 Der Völkermord 311

Die Autoren / 321
Quellennachweis der Unterdrückten / 323


VORWORT


Was wir über das kurdische Volk, seine Kultur und das Land, in dem es lebt, Kurdistan, wissen, ist weitgehend von denjenigen geprägt, die das kurdische Volk und ihr Land unter sich aufgeteilt haben: den Türken, Iranern, Irakern und Syrern. Auf der anderen Seite kämpfen die Kurden immer wieder für ihre nationale Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Es ist ein Kampf, der von der Weltöffentlichkeit nicht beachtet wird, zumal es nach der Lesart der Türken und der Iraner überhaupt keine Kurden gibt. Sie, die herrschenden nationalen Regierungen, bestimmen, was wir über die Kurden wissen und besonders nicht wissen. Geschichtsbücher und alle Hinweise auf das kurdische Volk, seine Lebensbedingungen und Lebensarten, sind zensiert, politisch verfemt, dürfen nicht zur Kenntnis genommen werden. «Bergtürken das ist der in der Türkei benutzte Begriff, wenn man von den Kurden spricht. Damit will man sagen, daß es zwar Türken gibt, die in den wilden zerklüfteten Bergen im Osten leben, die aber unterentwickelt sind, kulturlos. Menschen zweiter Klasse. Für viele Türken in den Großstädten sind die Bergtürken daher auch etwas Fremdes, mit denen am besten kein Kontakt auf genommen wird, die zu meiden sind und. wenn man ihnen begegnet, dann mit der Überlegenheit des «richtigen» Türken. Fiir den Kurden selbst aber bieten die Berge gerade Schutz und Geborgenheit. Wenn die Türken versuchen, kurdische Rebellen zu bekämpfen, oder türkische Soldaten in die Dörfer kommen, um Frauen zu schänden oder die Erntevorräte zu vernichten. Nicht umsonst hat es die türkische Regierung in der Vergangenheit verstanden, über Ostanatolien, einem Gebiet, in dem überwiegend Kurden leben, den militärischen Vorhang eines Sperrgebietes zu hängen. Niemand wußte bis vor wenigen Jahren, was dort mit den Menschen geschah, und selbst heute versucht die türkische Regierung, das Leben der Kurden von der Öffentlichkeit abzuschirmen.

Warum? Weil die Kurden ihr politisches, ökonomisches, soziales und kulturelles Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten wollen, ein Recht, das in der Charta der Vereinten Nationen über die Menschenrechte festgehalten ist. Genau das Gegenteil wird zumindest in der Türkei, dem Irak und dem Iran praktiziert: die elementaren Grundrechte werden negiert, indem diese Staaten versuchen, die Kurden zu assimilieren und sie ihrer kulturellen und geschichtlichen Identität zu berauben.

Die letzten Meldungen aus der Türkei und aus dem Irak dokumentieren jedoch, daß sich die Kurden ihre nationale Identität nicht rauben lassen, sondern dafür kämpfen. Sie stehen auf verlorenem Posten, eingezwängt und erdrückt von den politischen Machtblöcken im Nahen und Mittleren Osten: USA und Europa auf der einen und der UdSSR auf der anderen Seite. Entsprechend leicht ist es daher auch, die Kurden zu spalten, sie in politische Schablonen zu pressen, je nach dem taktischen Kalkül. Die Regierung in Bagdad beispielsweise hat den großen Vorteil, mit einem politischen Machtblock, der UdSSR, eng verbunden zu sein. Sich selbst bezeichnet die Regierung in Bagdad als «antiimperialistisch, sozialistisch und antizionistisch», die die «Befreiungsbewegungen in der 3. Welt unterstützt». Sie tut es in der Tat. Aber die kurdische Befreiungsbewegung im eigenen Land, die sich gegen die Arabisierung wehrt, bekämpft sie mit allen denkbaren Mitteln und Methoden, mit Massendeportationen, Massenhinrichtungen und Massenfolterungen. Und weil das so ist, sind zugleich die Freiheitsbestrebungen der Kurden allemal reaktionär, auf jeden Fall den irakischen Sozialismus bekämpfende Aktivitäten, an denen nur die Feudalherren und Amerikaner ein Interesse haben können. Dabei muß man schon mit einer totalen Blindheit geschlagen sein, wenn man nicht erkennen will, daß die kurdische Befreiungsbewegung, die seit 1976/1977 wieder gegen die irakische Regierung kämpft, eine antiimperialistische und antifeudalistische Befreiungsbewegung ist. Aber weil sie sich nicht an dem Machtblock UdSSR orientiert, ist sie für viele Dogmatiker eben «reaktionär».

Ähnlich ist die Situation in der Türkei: Hier sind selbst für die aufgeklärten Türken die Kurden Prototypen der Reaktion, des Chauvinismus, weil sie sich nicht an dem gemeinsamen antikapitalistischen Kampf beteiligen. Daß die Kurden sich aufgrund ihrer ökonomischen und politischen Strukturen gegen die doppelte Unterdrückung erst einmal wehren müssen, gegen einen rassistischen Staat und gegen die feudalistischen Strukturen, nehmen nur die wenigsten in der Türkei zur Kenntnis. Sie leugnen die kulturelle Identität und Notwendigkeit, diese Identität zu finden.

Inzwischen gibt es in der Türkei aber politische türkische Bewegungen, wie die Gruppen um Halkin Kurtulusu oder Özgürlük-Yolu, die von der Selbständigkeit der Kurden sprechen und dafür kämpfen. Aber in der Türkei selbst sind sie noch nicht stark verbreitet.

Auch für diejenigen Türken und Iraker, die ansonsten das politische Weltbild sehr wohl analysieren können und sich als Linke bezeichnen, ist das interessierte Zerrbild der Unterdrücker das einzige, das sie zur Kenntnis nehmen können. Und so gerät das, was sie über die Kurden sagen, zur Pseudoobjektivität, das ihnen ihr Weltbild erhält, ein Weltbild, das von der Wirklichkeit des Lebens jedoch weit entfernt ist.

Diese Pseudoobjektivität, das Nicht-Sehen-Wollen sozialer und kultureller Eigenständigkeit des kurdischen Volkes, verfestigt die Strukturen der politischen und ökonomischen Unterdrückung und treibt die Kurden in die Isolation. Es ist eine Isolation, die es sowohl politisch gibt als auch geographisch. Dort hinten, so sagt man in der Türkei, in den östlichen Bergen, gibt es eigentlich nichts, was man sehen und wissen muß. Es ist dort dreckig, unterentwickelt, und die Leute sind so zurückgeblieben, daß sie auch friedfertige Türken überfallen. Im Westen, so bekommt jeder Türkeireisende zu hören, ist alles angenehmer, vorteilhafter, eben türkischer. Und viele Beobachter und Touristen fallen auf diese Charakterisierung eines Volkes herein. Woher sollen sie auch etwas anderes wissen? So wird verhindert, daß man sich selbst davon überzeugt, wie das kurdische Volk lebt, wie es sich geschichtlich entwik-kelt hat und seine Eigenständigkeit bewahrt. Das gleiche versuchen diese nationalen Regierungen auch im Ausland zu praktizieren, indem sie überall verbreiten, daß es keine Kurden gibt, schon gar keine Menschenrechtsverletzungen, wie es «Türkenfeinde» behaupten. Denn wer trotz alledem behauptet, es gäbe Kurden in der Türkei oder es gäbe einen

Befreiungskampf der Kurden im Irak, der ist entweder ein Krimineller oder ein politischer Reaktionär. Die Schablonen sind austauschbar, vorgestanzt durch das Dogma nationaler und politischer Unfehlbarkeit. Überall bemüht man sich daher von außen, mit einer globalen Vernich-tungs- und Verleumdungsstrategie das Leben und Kämpfender Kurden von der Öffentlichkeit abzuschirmen, sie nicht mehr sprechen, sie nicht sichtbar werden zu lassen.

Daher wird in diesem Buch auch versucht werden, dieser Gewalt der offiziellen Lesarten und Beschreibungen des Landes und der Region, in der Kurden leben und schon immer gelebt haben, die Sprache und das Wissen der Unterdrückten entgegenzuhalten, um das verordnete Schweigen über die Kurden zu durchbrechen. So soll in den Beiträgen nicht nur eine fundierte politische, das heißt historische, ökonomische und soziale Analyse der Kurden geliefert werden, sondern auch ein Einblick in den direkten Lebenszusammenhang der Kurden. Weil es so wenig Literatur beispielsweise über das Leben der Frauen oder das Verhältnis der Bauern untereinander gibt, versuchen profilierte Autoren aus der BRD, die Kurden sprechen zu lassen.

In allen Bereichen geht es nicht darum, zu moralisieren oder Mitleid mit den Unterdrückten zu haben, sondern darum, ob und wie wir durch unser Schweigen selbst in den Zusammenhang von Unterdrückung und Vernichtung eines Volkes verstrickt sind. Es lohnt sich darüber nachzudenken, warum die türkische Regierung so ungehindert behaupten kann, daß es keine Kurden in der Türkei gibt, oder erklärt, daß es nie zu Aufständen im Osten der Türkei gekommen sei. Schließlich ist die BRD der beste Handelspartner der Türkei, unsere Wirtschaft investiert von allen ausländischen Investoren am meisten in der Türkei und trägt zur Unterentwicklung dieses Landes erheblich mit bei.

Ähnlich ist die Situation für die Kurden im Irak. Diejenigen, die ansonsten von Gerechtigkeit, Solidarität und der Notwendigkeit des nationalen Befreiungskampfes reden, unterstützen auf einmal eine Regierung, die eine revolutionäre sozialistische Bewegung durch eine Politik der verbrannten Erde vernichten will.

Dann gibt es noch diejenigen Kurdenfans, die sich an der folkloristi-schen Pflege kurdischen Volksgutes goutieren und von dem Gemälde Kurdistans leben, das Karl May hinterlassen hat. Es sind diejenigen Teile des Bürgertums, die zwar gerne bunte Trachten sehen und auch einmal ein kurdisches Essen genießen, aber die ausgemergelten Körper vergessen, die fast immer unter den Trachten verborgen sind. Auch das ist eine Form der Gettoisierung des kurdischen Volkes, das Getto der aufgeblähten Folklore.

Die «Geographie der Unterdrückten» ist somit ein Versuch, eine eigene Sehweise und Kenntnis von den Dingen zu erlangen, gegen das uns übergeworfene Netz von Kolonisatoren, Imperialisten und Nationalisten. Denn immer - und das geht aus den in diesem Buch vorliegenden Beschreibungen und Analysen hervor - zieht sich der rote Faden des nationalistischen Größenwahns durch die Geschichte der Unterdrücker. Sie, die einst selbst ausgebeutet und unterdrückt worden sind, erheben sich jetzt zum Richter über weiter fortschreitende politische Entwicklungen und Bewegungen. Insofern ist jeder Nationalismus, jedes Dogma von der Einzigkeit einer nationalen Identität in der Tat reaktionär. Denn in allen diesen nationalistischen Staaten herrscht nicht das Volk, sondern die Bourgeoisie. Arbeiter und Bauern erleben so eine ständig neue Unterdrückung und Ausbeutung. Einst waren es die Kolonialmächte, wie die Engländer und Franzosen, jetzt ist es die neuentstandene Bourgeoisie im Irak, Iran, Syrien oder in der Türkei, die das Ausbeutungsmonopol fest in der Hand hält und durch das nationalistische Element die herrschenden politischen Klassenwidersprüche verdeckt zwischen Bürokratie und Bourgeoisie auf der Seite der Herrschenden und den Bauern und Arbeitern auf der Seite der Unterdrückten.

Folglich können diese Staaten auch nicht dulden, daß in ihrem eigenen Staatsgebiet politische Befreiungsbewegungen entstehen, die die neue Bourgeoisie und die alte Bourgeoisie bekämpfen, indem sie ein revolutionäres Kurdistan aufbauen wollen. Minderheiten, die dieses Ziel anstreben, und lokale Kulturen, die von den Arbeitern und Bauern geprägt sind und nicht von der städtischen Bourgeoisie, müssen daher zwangsläufig vernichtet werden. Das zu erkennen ist ein Schritt, um auch das Kurdenproblem zu verstehen.

Aber auch gerade deshalb sind Forderungen zu unterstützen wie: Sicherung der Rechte und Freiheiten aller Staatsbürger, ohne Rücksicht auf ihre Nationalität und Sprache, Anerkennung der Existenz des kurdischen Volkes,
Garantien dafür, daß das kurdische Volk in seiner eigenen Sprache unterrichtet wird, daß Zeitungen, Zeitschriften und Bücher in kurdischer Sprache und über Kultur und Geschichte der Kurden veröffentlicht werden und dem kurdischen Volk ermöglicht wird, sein Selbstbestimmungsrecht zu praktizieren.

Warum das notwendig ist, für die Kurden und schließlich auch für uns, wird durch die Beschreibung des Alltagslebens der Kurden, ihrer Geschichte und ihren sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen, ihrer Kultur und der permanenten Praxis ihrer Unterwerfung dokumentiert. Es ist ein Versuch, ein Volk mittels internationaler Solidarität vor der Vernichtung, das heißt der Assimilierung zu retten.

Heute wird der Geographieunterricht in der Schule und der zu behandelnde Gegenstand, das Land, als objektiv vorhanden begriffen. Der Gegenstand wird dann beschrieben, kartographiert, in Statistiken aufgeführt. Er gerinnt zur Leblosigkeit, und er ist es in der Tat für Lehrer wie Schüler. Er ist subjektiv, weil er uns Daten und Informationen nennt, die (vorausgesetzt, sie stimmen), wie das Beispiel der Kurden zeigt, die Sehweise der jeweils herrschenden Klassen und Nationen wiedergeben. Mit dem Leben des Volkes und dem. wie und wo es lebt, hat dieses meist wenig zu tun. Es wird verschwiegen, was mit den vorhandenen Bodenschätzen gemacht wird, wie sic angeeignet werden und wer von ihnen profitiert. Es ist statistisch leicht zu vermitteln, daß der Persische Golf eine Fläche von 250000 Quadratkilometern bedeckt und eine mittlere Tiefe von 40 bis 50 Metern hat. Aber was weiß man schon von den Perlenfischern, die mit offenen Augen bis in große Tiefen tauchen, in wenigen Jahren ihre Gesundheit total ruinieren; der Erlös der Perlenfischerei ging aber bis vor kurzem allein in die Taschen der Unternehmer. Oder daß in der Osttürkei, in Batman, große Mengen Erdöl gefördert werden, während in der Stadt Batman selbst und den umliegenden Dörfern die Kinder vor Hunger sterben.

So liest man auch hier nicht, wie die Landwirtschaft im Osten entwik-kelt ist, bzw. nicht entwickelt ist, warum das so ist und wie unter feudalistischen Strukturen die Kurden leben, um ihr Überleben kämpfen, obwohl der Reichtum der Natur die Bauern alle ernähren könnte.

In diesem Buch geht es demnach in erster Linie darum, die Vielfältigkeiten von Kurdistan aufzuzeigen und denjenigen zur Sprache zu verhelfen, die ansonsten als Volk dazu keine oder nur geringe Möglichkeiten haben.

Für den Unterricht oder überhaupt den politischen Interessierten kann es lohnend und mit einem Aha-Erlebnis verbunden sein, die Texte und Informationen dieses Buches mit den Lexikas, herkömmlichen Geographie- und Geschichtsbüchern zu vergleichen. Dort wird man nichts oder nur wenig über die Kurden lesen. Notwendig wäre es, mit türkischen Kindern bzw. Jugendlichen und türkischen Lehrern zu diskutieren und sie zu befragen, was sie von den Kurden wissen und warum sie so wenig wissen.

Bei alledem kann es aber nicht darum gehen, ein Volk gegen das andere aufzuhetzen und die Kurden gegen die Türken auszuspielen. Denn die Feinde von Kurden, Türken und Irakern und Iranern sind immer die gleichen: Imperialismus, Kolonialismus und Fremdbestimmung. Der daraus resultierende Rassismus ist es, den es aber auch zu bekämpfen gilt, innerhalb der unterdrückten Völker, zu denen auch die Türken zählen. Nicht grundlos appellieren die politischen Organisationen der Kurden immer wieder an die Gemeinsamkeit aller unterdrückten Völker.

Sie kann natürlich nicht darin bestehen, daß eine politische Ideologie eines Nationalstaates die allein Bestimmende ist. Denn politische Gemeinsamkeit ist nur dann möglich, wenn man allen unterdrückten Völkern mit ihren speziellen nationalen Eigenheiten das Recht einräumt, sich politisch selbst zu entwickeln.

Dieses Recht wird heute weder den Kurden in der Türkei noch den Kurden im Iran und Irak eingeräumt. Vielleicht vermag die Beschäftigung mit der Geographie der Unterdrückten die Notwendigkeit nationaler Selbständigkeit und des Kampfes dafür verständlich zu machen.

Für dieses Buch galt es auch, uhterschiedliche politische Strömungen unter den Kurden nicht besonders breit auszutreten, weil jegliche politische Spaltung diesem Ziel einer politischen Selbständigkeit und Selbstbestimmung - wie es alle kurdischen Gruppen und Organisationen anstreben - noch weiter hinausschiebt, als es jetzt schon der Fall ist.

Ich bedanke mich bei den vielen Kurden, Türken und Irakern, die mir bei der Entstehung dieses Buches geholfen haben, die mit mir diskutiert haben und von denen ich viel gelernt habe. Immerhin war es der türkische Genosse Gün, der immer und zuverlässig bei Übersetzungen und Materialsammlungen geholfen hat. Bedanken für die Mitarbeit möchte ich mich auch bei Aydin Ucar, und den kurdischen Arbeitern des Arbeiter-Vereins in Frankfurt. Das gleiche gilt für die Kollegen und Freunde anderer türkischer und kurdischer Organisationen. Es war ein wichtiges und lehrreiches Bündnis.



1. Kapitel

I. Die widersprüchliche Geschichte des kurdischen Volkes


Wenn heute, im 20. Jahrhundert, 17 Millionen Kurden immer noch keine nationale politische Autonomie haben, sondern in vier verschiedenen Nationalstaaten politisch, sozial und kulturell unterdrückt werden, hängt das zweifellos mit den großmachtpolitischen Umklammerungen der Gegenwart zusammen. Das alleine aber erklärt nichts. Andere Nationen, die eine weitaus weniger glänzende Geschichte als die Kurden beanspruchen, haben schon längst erfolgreich nationale Befreiungskämpfe durchgefochten und ihre nationale politische Souveränität erkämpft. Das Schicksal der Kurden, natürlich auch der benachbarten Armenier, ist daher ein Lehrbeispiel dafür, wie wichtig es ist, zu wissen, ob ein Volk zu diesem oder jenem Stamm, dieser oder jener Rasse bzw. Religion gehört. Um die Ereignisse von heute richtig zu verstehen, muß man auch wissen, wie sich Menschen eines Stammes oder Volkes gegenüber anderen Stämmen und Völkern verhalten haben, zumal Tatsachen in ihrer wirklichen Gestalt leicht vergessen und dann von Mythen überdeckt werden. Die Geschichte der Kurden ist voll von dieser Erkenntnis, auch was die geschichtliche Rolle der sie noch heute unterdrückenden Nationalstaaten, beispielsweise der Türken, angeht. Ein Beispiel: Die türkischen Regierungen und Herrscher verleugnen, seitdem es eine Republik gibt, die Existenz der Kurden und erklären allenfalls, daß die «kurdisch sprechende Bevölkerung seit Jahrtausenden harmonisch mit den Türken zusammengelebt habe»1.

In Wirklichkeit wird hier versucht. Machtpolitik nachträglich zu legitimieren, indem einfach die Geschichte verfälscht wird. Denn die Kurden lebten schon seit mindestens einem Jahrtausend in den ostanatolischen bzw. westiranischen Gebieten. Hier, vom westlichen Taurus bis zu den westiranischen Zagros-Ketten, vom biblischen Berg Ararat im Norden bis zu den Ebenen von Mesopotamien im Süden lebten Kurden. Sie waren dort, bevor die ersten Türken, die Seldschuken, in den Nahen Osten einbrachen. Auf der anderen Seite vergessen wiederum kurdische Politiker, daß ihre Nachbarn, die Armenier, auch von kurdischen Fürsten und deren Soldaten niedergemetzelt wurden, nachdem die religiösen Konflikte von interessierten Türkenstämmen gegen die beiden Völker ausgespielt'wurden.

.....

 


Jürgen Roth

Geographie der Unterdrückten
Die Kurden

Rowohlt


Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH
Geographie der Unterdrückten
Die Kurden: bilder und texte über geschichte, kultur, lebensverhältnisse
und freiheitskämpfe einer minderheit
Jürgen Roth

Mit Beiträgen von Ismail Beșikçi, Nader Ebrahimi,
Hanneke Garrer, R. Ghassemlou, Yasar Kemal,
Mahmut Makal, Hemres Reso, Paul Rotkopf,
Adrienne Schürenberg, Bekir Yildiz

Die mit dem Aufdruck «Politische Erziehung» versehenen Bünde
veröffentlichen im Rahmen des rororo-Sachbuch-Programms
für Schüler, Lehrlinge, Studenten. Sozialarbeiter und Lehrer:
- Projektberichte aus Schul-, Hochschul-, Stadtteil-, Betriebs
und Sozialarbeit.
Berichte und Analysen wichtiger Erziehungskonzeptionen,
auch aus anderen Ländern.
Erfahrungen und Perspektiven der Organisation aller
im Ausbildungsbereich Tätigen:
- Vorschläge. Modelle und Materialien für eine veränderte
Praxis in den genannten Bereichen, insbesondere Vorschläge
zum Unterricht für Lehrer und Schüler;
- Untersuchungen des Zusammenhangs von Produktion,
Ausbildung und Bewußtseinsbildung, die Voraussetzungen
sind für eine politische Erziehung.
Herausgeber: Johannes Beck. Heiner Boehncke, Gerhard Vinnai

Redaktion Wolfgang Müller
Umschlagentwurf Jürgen Wulff (Foto: G6rard Klijn)

Erstausgabe
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg, März 1978
© Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, mit Ausnahme der folgenden
Beiträge:
Ismail Bejikgi: Die Entwicklung des nationalistischen Kemalismus
als Ursache für die Unterentwicklung Kurdistans, aus: Dokumente und
Analysen zur Lage der Kurden in der Türkei, © Verlag Ronahi,
Hevra, Zürich 1976
Mahmut Makal: Unsere Schule, Die sogenannte Mahalle-Schule, aus:
Mein Dorf in Anatolien, Frankfurt / M. 1971, S. 140-145, Insel-Verlag
Yasar Kemal: Diyarbarkir, aus: Bu Diyar Bastan Basa
© Cem Yayinevi, Istanbul, 1976
Bekir Yildiz: Aga Rejo © Cem Yayinevi, Istanbul, 1975
Satz Times (Linotron 505 C)
Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck / Schleswig
Printed in Germany
1080-ISBN 3 499 17125 2



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