EINLEITUNG
Diese Geschichte aus Kurdistan begann für mich im Herbst 1979 in einem türkischen Lokal in Mannheim* Hier lernte ich Mustafa kennen - so hatten ihn jedenfalls die anderen Männer genannt. Wir spielten zusammen Tavla und kamen ins Gespräch. Er erzählte über seine Arbeit in der Stadt und über seine Heimat. Er stammt aus der Ost-Türkei. Später, als wir uns wieder trafen und er mich zu seiner Familie nach Hause einlud, erfuhr ich mehr über ihn. Mustafa heißt in seiner Sprache Musto. »Wir müssen gegenüber unseren türkischen Landsleuten vorsichtig sein«, sagt er. Er lebt schon einige Jahre in der Bundesrepublik und hat seine Frau Sahhe und seine sieben Kinder nachgeholt. Die Özgans, so ihr Familienname, sind Kurden.
In der folgenden Zeit bin ich immer häufiger bei ihnen zu Besuch. Es entsteht eine enge Freundschaft zwischen der Familie und mir. Sie erzählen mir die Geschichte ihres Volkes, das zu einem der ältesten im Nahen Osten zählt und jahrhundertelang unterdrückt und verfolgt worden ist. Sie sprechen darüber wie ihr Land Kurdistan aufgeteilt und ihre Sprache verboten wurde. Und dann berichten sie über ihr eigenes Leben.
Musto und Sahhe wurden in Kortu geboren, einem kleinen Dorf in den Bergen Türkisch-Kurdistans. Sie wuchsen gemäß den alten Traditionen ihres Stammes auf und wurden Anfang der dreißiger Jahre Augenzeugen der ersten Kurdenaufstände. Sie heirateten und bekamen Kinder. Ousso war der erste, dann kam die Tochter Eme, die Söhne Durso und Alo und schließlich die Töchter Fate, Asme und Hene. 20 Jahre lebten die Özgans als Bauern und Hirten in der Abgeschiedenheit Kortus. Ende der sechziger Jahre zwang die wachsende Armut die Familie, ihr Dorf zu verlassen. Der Vater ging in die Fremde, in die Bundesrepublik. Seine Frau und seine Kinder zogen inzwischen in die Provinzhauptstadt Tunceli, von Kurden Dersim genannt, wo es in den siebziger Jahren zu zahlreichen kurdischen Demonstrationen kam. Die Kinder machten hier ihre ersten politischen Erfahrungen.
Sieben Jahre der Trennung vergingen, bis der Vater alle Familienangehörigen nach Mannheim holen konnte. In der Bundesrepublik sind sie zu »Ausländem« geworden und haben erlebt, was mit ihrem Volk geschehen ist, nachdem in der Türkei eine Militäijunta die Macht übernahm. Die Berichte der Özgans haben mich betroffen gemacht. Ebenso die Tatsache, daß Hunderttausende von Kurden nahezu unbemerkt in der Bundesrepublik leben und nur wenig über ihr Volk bekannt ist. So entstand die Idee, die Geschichte dieser kurdischen Familie aufzuschreiben.
Als die Özgans zustimmten, befragte ich sie zu allen Einzelheiten ihres Lebens, um ein möglichst geschlossenes Bild erstellen zu können. Wichtig war mir dabei, sowohl mit allen Familienmitgliedern einzeln zu sprechen als auch in verschiedener Zusammensetzung. Erinnerungslücken sollten ausgeglichen und viele unterschiedliche Eindrücke festgehalten werden.
Abgesehen von dem Kapitel über Kurdistan stammen daher alle Angaben von der Familie selbst. Es kommt vor, daß manche Daten variieren. Die Özgans konnten sich nicht mehr an alles genau erinnern. Außerdem hat es in Kortu früher keine Uhren und Kalender gegeben. Da die kurdische Sprache bis heute in der Türkei verboten ist und die Grundlagen für eine kurdische Rechtschreibung fehlen, war es der Familie unmöglich, eine richtige kurdische Schreibweise anzugeben. Alle Namen mußten folglich mit ähnlich klingenden deutschen oder türkischen Buchstaben wiedergegeben werden.
Natürlich entstanden bei meiner Arbeit viele Probleme. Bei den Özgans traten zum Beispiel Konflikte zwischen Jungen und Mädchen auf, was ihr Rollenverhalten angeht. Ich selbst als Mitteleuropäer hatte die Schwierigkeit, genügend Einfühlungsvermögen für diese gänzlich andere Lebenswelt aufzubringen. Was uns aber sicherlich geholfen hat, war das gegenseitige Vertrauen. Fate meinte jedoch am Ende: »Ob uns auch all die anderen Menschen verstehen werden, diejenigen, die soviel Brot zu essen haben?«
Kurdistan
Kurdistan
Kurdistan ist heute auf fünf Länder verteilt: die Türkei, Syrien, den Irak, den Iran und die UdSSR (Armenische, Georgische und Azer-beidschanische SSR). Hier leben zusammen etwa 20 Millionen Kurden. Türkisch-Kurdistan nimmt hiervon flächenmäßig den größten Teil ein. Es liegt im Osten der Republik Türkei und umfaßt 19 der 67 Provinzen des Landes. Dies sind Adiyaman, Agri (Ararat), Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Elazig, Erzincan, Erzurum, Gaziantep, Hakkan, Kars, Malatya, (Kahraman-)Mara§, Mardin, Mu§, Siirt, Tunceli (Der-sim), Urfa und Van.
Mit rund 225 000 Quadratkilometern - die Bundesrepublik ist geringfügig größer - machen diese Provinzen knapp 30 Prozent der gesamten Fläche der Türkei aus. Die Zahl der hier lebenden Kurden beläuft sich auf etwa sieben bis acht Millionen (25 Prozent der Bevölkerung der Türkei). Darüber hinaus gibt es rund eine Million Angehörige nicht-kurdischer Nationalitäten: Araber, Armenier, Tscherkes-sen, Azerbeidschaner und andere.
Die kurdische Bevölkerung besteht dabei zu etwa 70 Prozent aus seßhaften Bauern, 28 Prozent Stadtbewohnern und zwei Prozent nomadisierender Stämme. Sie sprechen die kurdischen Dialekte Kur-manci und Demili (hierzu zählt die Mundart Zazaca), die sich stark voneinander unterscheiden und deshalb auch nur bedingt eine Verständigung untereinander zulassen. Das gleiche gilt gegenüber den kurdischen Dialekten in Iran und Irak.
Die Mehrheit aller Kurden in der Türkei sind Aleviten und bekennen sich damit zum Schiitentum, einer reformierten Religionsauffas-sung des Islam. Eine Minderheit sind dagegen Anhänger des Sunni-tentums, des orthodoxen Islam, der auch die Religion der Türken ist. Unter kleinen Kurdenstämmen, die im Grenzgebiet zum Irak und Iran siedeln, ist darüber hinaus noch die Lehre von Zarathustra verbreitet.
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