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Der Völkermord


Auteur :
Éditeur : Gesellschaft für bedrohte Völker Date & Lieu : 1980, Göttingen & Wien
Préface : Pages : 136
Traduction : ISBN : 3-922197-05-1
Langue : AllemandFormat : 160x230 mm
Code FIKP : Liv. Ger. Hof. Vol 646Thème : Général

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Table des Matières Introduction Identité PDF
Der Völkermord

Der Völkermord
an den Armeniern vor Gericht
Der Prozeß Talaat Pascha

Tessa Hofmann

Gesellschaft für bedrohte Völker


Als im Juni 1921 der armenische Student Soromon Tehlerjan in Berlin vor Gericht stand, um sich für sein Attentat auf den ehemaligen türkischen Innenminister Talaat Pascha zu verantworten, vertauschten sich die Rollen von Opfer und Täter: Der Prozeß gegen Tehlerjan konnte nicht geführt werden, ohne die türkischen Genozidverbrechen zur Sprache zu bringen, für deren amtliche Anordnung Talaat hauptverantwortlich war und denen im Zeitraum zwischen 1915 bis 1918 drei Viertel von insgesamt 2,1 Mio. in der Türkei lebenden Armeniern zum Opfer gefallen waren. Tehlerjan, der durch den Völkermord beinahe seine gesamte Familie verloren hatte, wurde freigesprochen. Deutsche-Demokraten und Armenierfreunde verstanden damals die Gerichtsentscheidung als nachträglichen Versuch, dem verfolgten und vertriebenen armenischen Volk gerecht zu werden.

Am 24. April 1980 jährt sich zum 65. Mal der Gedenktag an den Beginn des türkischen Völkermordes, dem neben Armeniern auch eine halbe Million Assyrer und Zehntausende arabischer Christen zum Opfer fielen. Wir nehmen dieses Datum zum Anlaß, an vergangenes und gegenwärtiges Unrecht in der Türkei zu erinnern, - einem Land, mit dem Deutschland seit über hundert Jahren enge wirtschaftliche, militärische und diplomatische Beziehungen unterhält und dem die deutsche Bundesregierung gerade in diesen Tagen wieder finanziell unter die Arme greifen muß, um das westliche Bündnis zu festigen. Doch darf Bündnistreue nicht mit Blindheit gegenüber Minderheitenverfolgungen und Menschenrechtsverletzungen erkauft werden.




DER PROZESS TALAAT PASCHA
VORWORT ZUR NEUAUFLAGE


Der sogenannte „Prozeß Talaat Pascha“, der am 2. und 3. Juni 1921 in Berlin gegen den armenischen Studenten Soromon Tehlerjan (in den Gerichtsakten: Salomon Teilirian) geführt wurde, gehört in die Geschichte großer politischer Prozesse, denn hier wurde weit mehr verhandelt als der tödliche Schuß eines Armeniers auf den ehemaligen türkischen Innenminister. In diesem Sinne spricht auch Armin T. Wegner, der Autor des Vorworts zur Erstausgabe von 1921, von der „weltgeschichtlichen
Bedeutung“ des Prozesses und einer Symbolbedeutung des Angeklagten Tehleijan, der nur „ein Atom“ darstellte, „in dem der Schmerz einer ganzen mißhandelten Rasse sich zusammenballt, die in verzweifelter Notwehr ihre Vergeltung vollzieht.“
Worum ging es im Einzelnen? Das Opfer Talaat Pascha gehörte zwischen 1909 und 1918 der Regierung der nationalistischen Jungtürken an und war als Innenminister hauptverantwortlich für die jungtürkische Ausrottungspolitik, der zwischen 1915 bis 1918 anderthalb Millionen armenischer Untertanen der Türkei zum Opfer fielen. Die von Talaat unterschriebenen Telegramme des jungtürkischen Innenministeriums (vgl. Anhang B) belegen eindeutig die bis heute von sämtlichen türkischen Regierungen geleugnete Regierungsverantwortlichkeit für diesen Völkermord. Anfang Oktober 1918 entließ Sultan Mohammed VI. das jungtürkische Triumvirat, bestehend aus Kriegsminister Enver Pascha, Innenminister Talaat Pascha und dem Flottenminister Dschemal Pascha. Talaat wurde 1919 in Abwesenheit von einem Alliierten Kriegsgericht in Konstantinopel als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt.

Der armenische Student Tehlerjan, gebürtig aus einem Dorf bei Jersnka, hatte seine gesamte Familie bei den von Talaat angeordneten Todesmärschen verloren. 1920 folgte Tehlerjan dem flüchtigen Talaat nach Paris und von dort aus im Dezember jenes Jahres nach Deutschland, wo er ihn am Vormittag des 15. März 1921 auf der Hardenbergstraße in Berlin-Charlottenburg erschoß.

Formaljuristisch entschied die Frage, ob Tehleijan seine Tat vorsätzlich oder nach § 51 im Affekt begangen habe, den Prozeß. Die fünf medizinischen Sachverständigen kamen hierzu mehrheitlich zu der Auffassung, daß echte Epilepsie im Sinne der Schulmedizin bei Tehleijan nicht Vorgelegen habe, daß sich aber der Krankheitszustand des Angeklagten, der sich nach dessen Verwundung und Schockerlebnissen — Tehlerjan lag u.a. zwei Tage lang bewußtlos unter der Leiche seines Bruders - derartig verschlimmert habe, daß auch pathologische Tatmotive nicht auszuschließen seien. Diese Darstellung eines gemütskranken, schüchternen Täters weicht übrigens erheblich von dem Bild ab, das armenische Geschichtsdarstellungen mit Vorliebe zeichnen: In ihnen erscheint Tehleijan als junger Freiheitskämpfer und Rächer seines Volkes. Die historische Wahrheit dürfte vermutlich in der Mitte zwischen Prozeßtaktik und der überzogenen Sicht von Angehörigen eines gedemü-tigten und politisch einflußlosen Volkes liegen, die sich im idealen Bild des Tehlerjan eine ausgleichende Gerechtigkeit ausmalten, die so wohl niemals in der Geschichte bestanden hat. Nach seinem Prozeß lebte Tehlerjan in den USA, heiratete, hatte einen Sohn und eine Tochter und starb 1960 relativ jung im Alter von 64 Jahren.

Tehlerjans Prozeß im Juni 1921 endete mit dem Freispruch des Angeklagten bei „großer Bewegung im Saal und Händeklatschen“. Die Aussagen armenischer Zeugen, die die Todesmärsche überlebt hatten - der Frau Tersibaschjan und des armenischen Bischofs Palakjan - sowie des Angeklagten selbst ließen die Verhandlung zur Anklage gegen das Tatopfer und den millionenfach Schuldigen Talaat werden. Deshalb verband sich der Prozeß nicht mit Tehlerjans, sondern mit Talaats Namen und ging als „Prozeß Talaat Pascha“ in die Geschichte ein.

Nach dem aufsehenerregenden Freispruch Tehlerjans schien dann der Prozeßbericht das weitere Schicksal des armenischen Volkes zu teilen: Nur in wenigen öffentlichen Bibliotheken überhaupt auffindbar, geriet er im Laufe der Jahrzehnte in Vergessenheit, die, wie noch zu zeigen ist, bis heute immer den juristischen und moralischen Erben Talaats genutzt hat. Die Neuauflage des Prozeßberichts soll deshalb verhindern, daß das Schweigen über den Völkermord von 1915-1918 zur Gesetzmäßigkeit in der armenischen Geschichte werde. Anlaß bietet der 24. April 1980, an dem sich das Gedenken an den 24. April zum 65. Mal jährt.

Der 24. April 1915: Dieses Datum gilt den Armeniern als Beginn jener Ereignisse, die dann verkürzt unter der Bezeichnung „Armeniergreuel“ international bekannt wurden. Verkürzt aus zwei Gründen: Zum einen hatte es bereits in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts Massaker an der armenischen Bevölkerung des türkisch beherrschten Teils von Armenien gegeben (1894-1896), die die Jungtürken nach ihrem Machtantritt 1909 und 1912 fortsetzten, zum anderen verharmlost der Ausdruck „Armeniergreuel“ die Ausrottungsabsicht der jungtürkischen Regierung, die sich die „Lösung der armenischen Frage“ als vollständige Vernichtung der armenischen Bevölkerung in der Türkei vorstellte. Die Vernichtung der Armenier war also kein spontan losbrechender Pogrom, sondern ein geplanter und vorbereiteter Völkermord in sämtlichen armenischen Siedlungsgebieten des türkischen Herrschaftsbereichs: in den sieben armenischen Wilajets Ostanatoliens (Trapesunt, Erserum, Sebastia, Charberd oder Mamuret ul-Aziz, Diarbekir und Wan), in Nordsyrien und Mesopotamien (in den Bezirken Aleppo, Antiochia, Suedije, Kessab, Alexandrette, Killis, Ajntab und Urfa) sowie in Kilikien einschließlich der Wilajets Adana und der im Taurus und Amanus gelegenen Teile des Wilajets Aleppo.

Der Völkermord begann mit der Einberufung der wehrfähigen männlichen armenischen Bevölkerung im Februar 1915. Die armenischen Soldaten wurden entwaffnet und wie Gefangene zu Zwangsarbeiten eingesetzt, bis sie an Auszehrung starben oder niedergemacht wurden. In der Nacht vom 24. zum 25. April 1915 sowie an den darauffolgenden Tagen wurden dann in Konstantinopel, wo sich die kulturell und politisch aktivste Armeniergemeinde befand, über 600 führende armenische Persönlichkeiten verhaftet, von denen bis auf 15 niemand überlebte. Beide Maßnahmen — die Einberufung und Ermordung der wehrfähigen Männer und die Vernichtung der geistigen und politischen Führung der Armenier — sollten der armenischen Zivilbevölkerung jede Möglichkeit nehmen, sich politisch oder militärisch zusammenzuschließen und zu verteidigen. Was darauf landesweit folgte, war eine organisierte Abschlachtung und Ausrottung der schutzlosen Zivilbevölkerung, die im Ausland, vor allem in Deutschland, milde mit dem Begriff „Dislokalisation“ (Umsiedlung) umschrieben wurde. In Wirklichkeit sah der Vernichtungsplan des Innenministeriums aber vor, daß kein Armenier die Vertreibung überleben durfte. Wer also nicht gleich an Ort und Stelle erschlagen wurde, kam während oder am Ende der Deportationsmärsche an Hunger, Durst oder Seuchen um. „Nach vorsichtigen Schätzungen starben durch die direkte Einwirkung dieses sorgfältig ausgeführten Planes 1.500.000 Armenier“, schrieb der Kommissar des Völkerbundes, Fridtjof Nansen. Rechnet man hierzu noch die Opfer der Massaker, die die fanatisierte aser-beidschanische (turkstämmige) Bevölkerung an den Armeniern des Transkaukasus beging (1918 in Baku 30.000) sowie die Massaker der Nachkriegsjahre 1919-1922 während der Kemalistenkämpfe (1919 20.000 Armenier in Kundschular, 1921

20.000 in Hadschn sowie bei der Eroberung Izmirs durch die Kemalisten 1922
10.00 Armenier), so kommt man auf eine Gesamtzahl von annähernd zwei Millionen armenischer Opfer, die zwischen 1894 bis 1922 von türkischen Fanatikern in der Türkei und im Transkaukasus ermordet wurden. Den absoluten Höhepunkt der Ausrottungsraserei brachten jedoch die Jahre 1915 —1918, denn während des ersten Weltkrieges glaubte sich die Türkei vor den lästigen Interventionen der Ententemächte England und Frankreich sowie Rußlands sicher. Als entscheidenste Wirkungsursache des armenischen Schicksals treten auf: der türkische Nationalismus, formuliert in der Ideologie des Großtürkentums des Komitees „Einheit und Fortschritt“ sowie das armenische Freiheitsstreben nach dem Vorbild der erfolgreicheren Balkanvölker, vor allem Griechenlands und Bulgariens. Beide Kräfte wurden beim Zerfall des Osmanischen Reiches freigesetzt.

Ist mit den Ereignissen vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg die unmittelbare geschichtliche Vergangenheit des Prozesses gegen Tehlerjan umrissen, so sollen jetzt die politischen Hintergründe der Prozeßgegenwart erhellt werden, soweit sie die Beziehung zwischen Türken, Deutschen und Armeniern betreffen, ln diesem Zusammenhang besitzt der Verhandlungsort Berlin einen ähnlichen Symbolwert, wie er der Person des Angeklagten zukommt. Denn obwohl Tehlerjan nach der Tat gerufen haben soll: „Ich Armenier, der Türke, für Deutschland kein Schade!“, fiel es der deutschen Seite schwer, im Prozeß gegen den armenischen Attentäter eine unbefangene Haltung einzunehmen. Das deutsch-armenische Verhältnis war, ebenso wie das deutsch-türkische, dazu zu vorbelastet, das internationale Interesse an diesem Prozeß entsprechend groß. Tehlerjans Verteidiger spielten im Prozeßverlauf wiederholt auf diesen Sachverhalt an und erinnerten an den traurigen Ruf, den sich das Deutsche Kaiserreich als Verbündeter der Türkei geholt hatte, weil es nicht nur tatenlos der Ermordung der armenischen Zivilbevölkerung durch die Türken zugesehen hatte und seinen gewaltigen wirtschaftlichen, militärischen1 und politischen Einfluß auf die Türkei ungenutzt ließ, sondern außenpolitisch die Ausrottungspolitik des jungtürkischen Verbündeten sogar noch beschönigte und rechtfertigte, so daß, wie es auch zahlreiche deutsche Zeugen bestätigen, unter Türken und Armeniern gleichermaßen der Eindruck entstand, der Völkermord werde im Interesse Deutschlands verübt. Ein solcher Glaube an die Mitverantwortung der Deutschen, bzw. an ihren Einfluß auf die Türken widerspiegelt sich selbst noch im verzweifelten Angebot jener vor Entsetzen geistesverwirrten Armenierin, die kurz vor ihrem Ende deutsche Krankenschwestern anflehte: „Wir wollen Moslems werden, wir wollen Deutsche werden, was ihr wollt', nur rettet uns, jetzt bringen sie uns nach Kemagh und schneiden uns die Hälse ab.“ (Anhang A)

Die Wurzeln des armenischen Mißtrauens gegenüber Deutschland reichen weit in die Geschichte der deutschen Rußland- bzw. Türkeipolitik zurück. Deutschland war schon früh aus Gegnerschaft zu Rußland mit dessen Feind, der Türkei verbündet und hatte wie keine zweite europäische Großmacht seit dem 19. Jahrhundert bedeutende militärische und wirtschaftliche Hoffnungen an dieses Land geknüpft. Seinen Einfluß der Armenier wegen, die von den Türken als prorussische „fünfte Kolonne“ betrachtet wurden, zu gefährden, schien sich für Deutschland nicht zu lohnen. Machtpolitik ging damals wie heute vor humanistische Kriterien.
Eine kurze Unterbrechung der herkömmlichen deutschen Türkei-, bzw. Armenienpolitik trat offenbar 1919 ein, nachdem sich eine junge deutsche Republik etabliert hatte, die auch außenpolitisch andere Maßstäbe als das Deutsche
Kaiserreich zu setzen versuchte. Die Spannbreite politischer Auffassungen in Deutschlands erster Republik werden in den Plädoyers des Staatsanwalts und des Tehlerjan-Verteidigers Werthauer sichtbar: Während der konservativ argumentierende Staatsanwalt an die Treueverpflichtungen aus dem deutsch-jungtürkischen Waffenbündnis erinnerte, bezeichnete Werthauer den Talaat als „landesflüchtigen Verbrecher“, der niemals Verbündeter des deutschen Volkes, sondern nur des „früheren militaristischen Regimes“ gewesen sei. Armeniens Bedrohung durch seine beiden „militaristischen“ Nachbarn Sowjetrußland und Türkei lud vom Standpunkt republikanisch-pazifistisch orientierter Kreise, wie sie Werthauer vertrat, zur gefühlsmäßigen Identifizierung mit dem armenischen Nationalstaat ein. Die wichtigsten Gemeinsamkeiten im Selbstverständnis der deutschen und der armenischen Republik der Nachkriegsperiode dürften in der Kriegsmüdigkeit sowie im Bekenntnis zum Parlamentarismus westlichen Vorbilds bestanden haben. Armeniens Lage war nach dem Ersten Weltkrieg denkbar kompliziert: Die Auflösung, bzw. der Abmarsch russischer Verbände 1917/18 an die Bürgerkriegsfronten in Rußland beraubte die Bevölkerung des russisch beherrschten armenischen Territoriums ihres bisherigen Schutzes und gab das Land dem militärischen Einfall der Türkei preis, die über Armenien nach Aserbeidschan drängte. Bei diesem Vormarsch der türkischen Nationalisten hatten die transkaukasischen Armenier ein ähnliches Schicksal zu gewärtigen, wie einige Jahre zuvor ihre westarmenischen Landsleute. So kam es am 28. Mai 1918 auf der Einöde bei Sardarabat unweit Jerewans zur Entscheidungsschlacht zwischen Türken und Armeniern, bei der fast Unglaubliches gelang: Die Armenier brachten die technisch und zahlenmäßig weit überlegene türkische Expansionsarmee in einer einzigartigen Verteidigungsschlacht zum Stehen. An ihr nahmen nicht nur reguläre Verbände, sondern das ganze Volk, Minderjährige, Hausfrauen und selbst die Mönche des nahegelegenen Klosters Etschmiadsin teil. Kurz darauf wurde die Republik Armenien ausgerufen, die - allerdings erfolglos -auf eine wirkungsvolle Unterstützung durch Frankreich, England und die USA hoffte. Von außen schon bald erneut durch die Türkei bedroht, im Inneren politisch zerrissen und vor unlösbare soziale Probleme — Flüchtlingsmassen, Hungersnöte und Seuchen - gestellt, trat deshalb nach langen und heftigen Debatten die bürgerliche Regierung der Republik Armenien am 2.12.1920 die Herrschaft an die Räte ab. Am 30.12.1922 schloß sich Armenien endgültig der Sowjetunion an.

Trotz der Machtübergabe an die Sowjets brach aber im Frühjahr 1921 ein antisowjetischer Aufstand los, der u.a. durch die als Verrat empfundenen Beziehungen Sowjetrußlands zur kemalistischen Türkei ausgelöst wurde. Nur einen Tag nach Tehlerjans Schuß auf Talaat, also am 16. März 1921, wurde in Moskau ein Freundschaftsvertrag zwischen Sowjetrußland und der Türkei geschlossen, bei dem Sowjetrußland die armenischen Städte Kars und Ardahan an die Türkei abtrat und sich verpflichtete, die Türkei mit Geld und Kriegsmaterial zu versorgen. Mustafa Kemal, der später^ erste Präsident der Türkei und „Vater aller Türken“ („Atatürk“), wurde in Rußland zum antiimperialistischen Revolutionär hochgejubelt. Für die meisten Armenier schien es damals eindeutig, daß diesen russisch-türkischen Umarmungen die Lebensrechte Armeniens geopfert wurden.
Von Deutschland aus stellte sich die russisch-türkische Achse zu jener Zeit als ein „bolschewistisch-türkischer Feldzug gegen Armenien“ dar, der in Moskau von Enver Pascha entworfen und geleitet wurde (vgl. S. 15). Fast scheint es, als sollte Armenien an die Stelle des herkömmlichen antirussischen Verbündeten Türkei treten, doch bevor eine solche Konstellation je eintreten konnte, hatten sich die innen- und außenpolitischen Verhältnisse im armenischen Rumpfterritorium wie
üben beschrieben geändert und das politische Interesse Deutschlands an Armenien erlosch für immer. Im Dritten Reich war Deutschland längst wieder mit den Türken gegen die UdSSR sowie die ehemaligen Entente-Staaten verbündet, und es war vom damaligen Standpunkt deutscher Türkeipolitik nur folgerichtig, daß die sterblichen Überreste des Massenmörders Talaat im März 1943 von Berlin nach Istanbul überführt wurden, wo sie in Anwesenheit des deutschen Botschafters und Kriegsverbrechers Franz von Papen auf dem Freiheitshügel, einem Prominentenfriedhof in Konstantinopel, beigesetzt wurden. Ein führender türkischer Journalist drückte bei dieser Gelegenheit die Dankbarkeit der türkischen Nation für die Rückführung Talaat Paschas in seine Heimat aus, „wo dessen Ideen inzwischen verwirklicht wurden.“ Der Todestag Talaats wird bis heute in der Türkei feierlich begangen und u.a. in der Presse ehrend erwähnt.

Auch die Bundesrepublik Deutschland ist durch NATO- und EWG-Verträge Partnerin der Türkei geblieben. Überdies hat sie innenpolitisch auf ca. 2 Millionen türkische Staatsangehörige Rücksicht zu nehmen. Die kulturellen und sozialen Bedürfnisse derjenigen unter ihnen, die kurdischer, armenischer, assyrischer oder anderer Nationalität sind, scheinen für deutsche Behörden allerdings oft weniger Gewicht zu besitzen, als die der Türken, ln Berlin, das mit 100 000 türkischen Einwohnern die viertgrößte Türkenstadt der Welt ist, hat z.B. das Kunstamt Kreuzberg 1978 die Unterstützung einer armenischen Informations- und Kulturveranstaltung aus Rücksicht auf die türkischen Einwohner dieses Stadtteils abgelehnt. Im Vergleich zu Großbritannien und Frankreich - allein in Marseille leben 60 000 Armenier — wird in der Bundesrepublik auffällig wenig über Armenien geforscht, geschrieben und gewußt. Die geringe Anzahl von etwa 5 000 bis 7 000 Armenier, die z.Z. in der Bundesrepublik leben, ist die Folge und nicht die Ursache dieser Vernachlässigung.

Gemessen an solcher Kontinuität in der Haltung Deutschlands gegenüber Türken und Armeniern wirkt der Prozeßzeitraum als interessante, wenn auch kurze Ausnahmesituation. Am Prozeß gegen Tehlerjan beteiligten sich die engagiertesten Armenierfreunde Deutschlands, die während der Kaiserzeit wegen der damaligen armenierfeindlichen Zensurerlasse kaum Einfluß auf die öffentliche Meinung hatten nehmen können und unter halbillegalen Bedingungen schreiben mußten: Dr. Johannes Lepsius, evangelischer Geistlicher und Begründer der Deutschen Orientmission sowie der Deutsch-Armenischen Gesellschaft (gegründet 1914), gab als Sachverständiger eine allgemeine Darstellung des Völkermords2; ohne das Verdienst dieses aufrichtigen Armenierfreundes schmälern zu wollen, muß allerdings aus heutiger Sicht kritisch eingewandt werden, daß vieles von dem, was Lepsius über das Verhältnis Deutschland-Armenien sowie die deutsche Rolle in der armenischen Geschichte sagte, von einem falsch verstandenen Patriotismus beeinflußt wurde, der ihm den Blick für die geschichtliche Wahrheit trübte. So bezichtigt Lepsius in seinen Schriften wie auch noch während des Prozesses 1921 die Alliierten und Rußland des Verrats an den Armeniern, während er Deutschland eine ganz und gar unverdiente Rolle als Helfer der Armenier zuschreibt. Ähnlich apologetische Ansätze finden sich u.a. auch im Vorwort von Lepsius’ wichtigem Beitrag „Deutschland und Armenien 1914-1918. Sammlung diplomatischer Aktenstücke“ (Potsdam 1919). Von bleibender Bedeutung dürften dagegen Lepsius’ Aussagen über die soziale Herkunft der armenischen Völkermordsopfer sein. Lepsius stellte unmißverständlich klar, daß das Genozid vor allem Bauern und Handwerker traf, aus denen die westarmenische Bevölkerung zu 80% bestand. Daß Lepsius sich zu einer solchen Erklärung veranlaßt fühlte, beweist, wie schon damals versucht wur-
de, Völkermorde mit dem Einwand zu bagatellisieren, ihre Opfer seien „reich und geschäftstüchtig“. Nach den Armeniern wurden auch Juden und Chinesen — in Indochina - mit derartigen Attributen diskriminiert.

Als Zeuge der Verteidigung hielt sich auch der Expressionist und Reiseschriftsteller Armin T. Wegner bereit, der als deutscher Sanitätsoffizier während des Ersten Weltkrieges in der Türkei lebte und den Völkermord fotografisch dokumentiert hatte; 1919 wandte er sich in einem berühmt gewordenen offenen „Brief an den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, Herrn Woodrow Wilson“, um auf die Lage der Armenier aufmerksam zu machen.

Tehlerjans Freispruch am 3.6.1921 bedeutete eine glückliche Wendung in seinem eigenen Leben und vor allem einen moralischen Sieg für die Armenier, deren Schicksal durch Tehlerjans Tat öffentlich zur Sprache kommen konnte. Eine Lösung im politischen Sinn brachte der Freispruch freilich nicht. Die Türkei hat sich, mit Ausnahme der Kriegsverbrecher-Prozesse der Alliierten 1919, niemals für den Völkermord an den Armeniern verantworten müssen und hat auch ihrerseits niemals ideelle oder materielle Wiedergutmachung geleistet. Im Gegenteil: Sie führt einen kostenaufwendigen Propagandafeldzug gegen die Darstellung des objektiven Sachverhalts und türkische Diplomaten müssen, wie zum Beispiel in der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, gegen alle Versuche Sturm laufen, den Völkermord an den Armeniern in internationalen Gesetzeswerken oder auch nur in Über-blicksda'rstellungen zu erwähnen.

Während für die Weltöffentlichkeit der Erste Weltkrieg und der Völkermord an den Armeniern beinahe zur Vorvergangenheit geworden ist, leidet das armenische Volk bis heute an den unmittelbaren und mittelbaren Folgen des Genozids: Seine Heimat ist zwischen den beiden politisch-strategischen Machtblöcken der Gegenwart, den Warschauer Paktstaaten in Gestalt der UdSSR und der NATO in Gestalt der Türkei, aufgeteilt. In der Türkei leben nach sowjetarmenischen Angaben gegenwärtig schätzungsweise 250 000 Armenier3, davon etwa 150 000 in ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten in Westarmenien. Die meisten von ihnen sind, besonders in ländlichen Gebieten, blutiger Unterdrückung ausgesetzt, wenn sie sich zu ihrer nationalen Identität zu bekennen wagen. Sie führen ein völlig abgeschiedenes Leben als sogenannte Kryptoarmenier, die man absichtlich in Unkenntnis über die Existenz einer Sowjetrepublik Armenien auf dem armenischen Restterritorium mit 3 Millionen Einwohnern sowie weiterer vier Millionen Armeniern in und außerhalb der UdSSR hält. Die Kryptoarmenier Westarmeniens sind fast nur noch im ethnographischen Sinn Armenier; ihre Assimilation ist vorprogrammiert und von der türkischen Regierung als Schlußpunkt in der langen Geschichte dieses Völkermords gewollt. Die ca. 100 000 Armenier, die gegenwärtig in Konstatinopel leben, wo wieder die größte armenische Gemeinde in der Türkei besteht, haben scheinbar leichtere Bedingungen, ln Wahrheit wird ihnen aber die Wahrnehmung ihrer im Lausanner Vertrag von 1923 verbürgten Rechte als „religiöser Minderheit“ durch eine Vielzahl behördlicher Schikanen äußerts erschwert, deren erkennbares Ziel es ist, auch hier eine Resignation und schließlich die Aufgabe der armenischen Nationalität herbeizuführen.

Nicht minder sind die im Ausland lebenden Armenier betroffen, derzeit schätzungsweise zwei Millionen außerhalb der UdSSR. Ihr Problem der Heimatlosigkeit, zerrissener Familienverhältnisse und der Furcht vor Assimilation und Identitätsverlust, der in vielen Fällen auch juristischen Rechtlosigkeiten der Ausländerstatus sowie einer fehlenden Nationalvertretung stellt ebenfalls eine direkte Folge der Aus-rottungs- und Vertreibungspolitik der Türkei dar. Am gefährdesten sind gegenwärtig
die rund 200 000 im Libanon lebenden Armenier, die jahrelang ihre neutrale Haltung gegen alle Bürgerkriegslager verteidigt haben. Die Türkei versucht allerdings erfolgreich, über Israel, mit dem sie durch diplomatische Beziehungen und Waffenlieferungsverträge verbündet ist, Einfluß auf die Falangisten in Beirut auszuüben und den Libanon zu „entarmenisieren“. Christliche Rechtsmilizen überfallen immer häufiger das Armenierviertel in Beirut und machen auf Armenier Jagd; die Armenier befürchten nicht zu unrecht eine Wiederholung der Massaker und Vertreibung von 1915.

Dennoch scheint das armenische Schicksal heute vor allem durch das vergeßliche Weltgewisseh besiegelt zu sein, das damit allen künftigen Völkermorden Vorschub leistete und leistet. Bezeichnenderweise hat Talaats geistiger Erbe Adolf Hitler diesen Zusammenhang gesehen, als er am 22. August 1949 den Oberbefehlshabern der Heeresgruppen den Überfall auf Polen ankündigte und dabei ihre Bedenken gegen seine Pläne zur Vernichtung der „slawischen Untermenschen“ mit folgendem
Argument zu zerstreuen versuchte:

„Ich habe den Befehl gegeben (...), daß das Kriegsziel nicht im Erreichen von bestimmten Linien, sondern in der physischen Vernichtung des Gegners besteht. So habe ich ( ... ) meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidlos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur so gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen. Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“4

Unser Interesse, mit der Neuauflage des „Prozesses Talaat Pascha“ die Erinnerung an den Völkermord von 1915—1918 wachzurufen, kann also niemals rein historischer Natur sein. Es gilt in erster Linie der Zukunft, in der sich nicht allein die Situation der Armenier verbessern, sondern, in übergreifendem Sinn, der Kreislauf von Völkermord und Vergessen durchbrochen werden muß.

Ich möchte bei dieser Gelegenheit Herrn Gerayer Koutcharian, Lehrbeauftragter für Armenisch an der Freien Universität Berlin, für seine Hilfe und seine Anteilnahme an dieser Neuauflage danken, die ohne ihn nicht zustande gekommen wäre.

Tessa Hofmann




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